Spiel der Referenzen
In Oliver Sturms satirischer Hörspielserie „Die Erschöpften“ wird der „Zauberberg“ mit „White Lotus“ und russische Rechts-Esoterik mit dem kulturellen Systemwechsel verknüpft. Das ist so unterhaltsam, dass man keine der literarischen Referenzen zu kennen braucht.
Oliver Sturm: Die Erschöpften – 10-teilige Hörspielserie
NDR Kultur vom 3.5. bis 31.5.2025 samstags ab 18:04 Uhr
DLF Kultur 11.5. bis 25.5.2025, ab 18.30 Uhr
DLF 6.5. bis 27.5.2025 dienstags und samstags ab 20.05 Uhr
ARD Audiothek ab 28.4.2025
Vor ein paar Jahren wollte selbst das öffentlich-rechtliche Hörspiel noch „Netflix für die Ohren“ sein. Das hat vorhersehbar nicht geklappt. Die Serienproduktionen waren marktforschungsgetrieben maximal unambitioniert und all die Sondermittel sind dem digitalen Vergessen anheimgefallen. Überreizung und Erschöpfung folgen in immer kürzer werdenden Perioden aufeinander, was auch Konsequenzen für diejenigen hat, die den Betrieb am Laufen halten – in der Fiktion wie in der Realität.
In Oliver Sturms zehnteiliger Hörspielserie „Die Erschöpften“, die vom Norddeutschen Rundfunk und dem Deutschlandfunk produziert wurde, fallen sogar die sogenannten Leistungsträger unter das gerade in Kraft getretene Urlaubsgewährungsgesetz. Um in Urlaub gehen zu dürfen, muss man – ärztlich attestiert – nicht nur urlaubsreif, sondern auch urlaubsfähig sein. Wer Letzteres nicht ist, muss erst einmal in eine Pre-Holiday-Klinik zum Üben.
Das Setting ist der Netflix-Serie „White Lotus“ entlehnt – natürlich auf bundesrepublikanischen Maßstab heruntergedimmt. Das 1901 gegründete „Haus Müßiggang“ an den Hängen des fiktiven Oberen Wendelstocks ist Ort der Handlung. Dort sollen schon Thomas Mann, Rilke, Strawinsky und andere reiche Russen abgestiegen sein. Doch bevor unser Held Sven Schmitz, gespielt von Tom Schilling, in der Klinik die Bekanntschaft von Madame Chauchat (Jeannette Spassowa) machen darf, muss er unter ermutigendem Zuspruch seines persönlichen Reiseleiters Manuel (Urs-Fabian Winiger) gleich ein zweites Mal einchecken, weil es beim ersten Mal noch nicht so geklappt hat. Dafür ist das Zimmer miserabel. Als Sven mit sofortiger Abreise droht, bekommt er nicht nur eine bessere Unterkunft, sondern stellt fest, dass der ganze Ärger nur ein Test war. Denn die Pre-Holiday-Patienten werden permanent bewertet und bekommen Creditpoints – ohne dass sie wüssten, welches Verhalten hier erwünscht ist.
Ein Spiel mit Referenzen
Der Name Clawdia Chauchat kommt einem doch irgendwoher bekannt vor. Richtig, aus dem „Zauberberg“ von Thomas Mann. Auch von Paul Bougran (Martin Rentzsch), einem Mitpatienten, dessen Hotelzimmer wie ein Büro eingerichtet ist, damit er sich langsam aus seinen Routinen ausschleichen kann, hat man schon einmal gehört. Autor Oliver Sturm enthüllt das Geheimnis selbst – wenn auch erst in Folge neun der zehnteiligen Serie. Es ist natürlich niemand anderes als der Held aus der Novelle „Monsieur Bougran in Pension“ von Joris-Karl Huysmans aus dem Jahr 1888, der sich nach seiner Zwangspensionierung zu Hause ein Büro eingerichtet hat. Fun Fact am Rande: Die Hörspieldramaturgin Elisabeth Panknin hatte dieses Stück mit Jens Harzer in der Titelrolle inszeniert, als sie 2014 in Pension ging.
Selbstverständlich ist Paul Bougran nicht der echte Name des Patienten in Oliver Sturms Stück, sondern das Pseudonym von Dieter Thomanek, seines Zeichens Topmanager bei der „TOI“, der „Touristik Organisation International“. Diese betreibt das Haus Müßiggang zusammen mit den Krankenkassen und der Hoteldirektorin Violet Smith (Barbara Spitz).
Eine dritte literarische Referenz, die für Oliver Sturms Stück inhaltlich relevant ist, ist die zwischen 1997 und 2010 erschienene Romanreihe „Anastasia – Die klingende Zedern Russlands“ des rechts-esoterischen russischen Unternehmers und Schriftstellers Wladimir Megre. Sie bildet die Basis für die völkisch-nationalistische Anastasia-Bewegung. Der Bayerische Rundfunk widmete dem Kult, der auch in Deutschland Fuß zu fassen versucht, 2022 die erste Staffel seiner Reihe „Seelenfänger“.
Im Hörspiel ist nun Wladimir Megre der Ehemann von Clawdia Chauchat und versucht, über die Anteilseignerin und Hoteldirektorin Violet Smith Einfluss auf das Pre-Holiday-Programm zu nehmen. Clawdia Chauchat figuriert außerdem nebenbei als Anastasia, die an einem aus einer 1000 Meter tiefen Quelle gespeisten Teich kultische Rituale vollzieht.
Wie Fiktionen Realitäten prägen
„Die Erschöpften“ handelt also davon, wie literarische Fiktionen materielle Realitäten prägen. Erstaunlicherweise muss man jedoch keine einzige der mannigfaltigen literarischen und popkulturellen Referenzen kennen, um die Serie zu genießen. Wenn man sie erkennt, ist es natürlich umso vergnüglicher. Es sind unter anderem die satirischen Seitenhiebe auf die zum Burnout führenden Selbstoptimierungsorgien und das Achtsamkeits-Coaching für einfachste Lebensvorgänge wie Atmen und Gehen, die das Stück so unterhaltsam machen.
Ein komödiantischer Höhepunkt in der Urlaubssimulation ist zweifellos die Folge vier, „Abendessen mit Andersdenkenden“, in der es natürlich bald um den Status der Ukraine geht. Einen Seitenhieb auf Großorganisationen (wie sie auch eine öffentlich-rechtliche Anstalt ist) erlaubt sich Sturm in Folge sieben mit dem schönen Titel „Vernichte deine Feinde vollständig“. In der lässt der Autor den Hotelbibliothekar Dr. Gärtner (Bernd Moss) einen Vortrag über „Letale Affären – Zur Psychodynamik sterbender Institutionen“ halten. Dr. Gärtner bezeichnet sich übrigens als Mitglied der „Turmgesellschaft“ – eine weitere literarische Referenz, diesmal auf „Wilhelm Meisters Lehrjahre“ von Goethe.
In Oliver Sturms Serie tauchen in den Nebenrollen nur wenig verklausuliert Persönlichkeiten aus dem Politikbetrieb auf. So unterhält sich der ehemalige Wirtschaftsminister mit dem Klinikleiter Prof. Behrens (Sebastian Blomberg) und ein gewisser Lutz Liebenfels taucht einträchtig mit einer Sandra Wahnschaffe auf, die schnell als Björn Höcke und Sahra Wagenknecht zu identifizieren sind. Beeindruckend ist vor allem aber die Genauigkeit, mit der Sturm den gegenwärtig Systemwechsel ins Bild hebt, der in der Realität tatsächlich stattfindet. Der magische Teich, der erst als japanischer Onsen gelabelt ist, mutiert zu einem germanischen Archeon und wird statt von einer japanischen Zeremonienmeisterin nun von einer blonden Maid mit Timoschenko-Zopf überwacht.
Ein Hauch Selbstironie
Wenn man das Label „Netflix für die Ohren“ als Qualitätsmerkmal verstehen will, dann ist „Die Erschöpften“ die erste Hörspielserie, die diesen Standard an Erzähl- und Spielfreude, Komplexität und Relevanz erfüllt. Einen besseren Protagonisten als Tom Schilling in der Rolle des Sven Schmitz hätte man sich kaum vorstellen können. Seine nervige Verlobte Cleo, mit der er präzise interpunktierte WhatsApp-Nachrichten austauscht, ist mit Marleen Lohse borderline-gerecht besetzt und Jeannette Spassowa gibt die Madame Chauchat/Anastasia mit Hingabe und einem Hauch Selbstironie.
Ebenso wie Oliver Sturm als Autor und Regisseur mit den Referenzen spielt, benutzt auch Komponist Andreas Bick bestimmte Vorlagen. So stammt das musikalische Leitmotiv der Serie aus dem wohl schönsten Urlaubsfilm überhaupt: „Die Ferien des Monsieur Hulot“ von Jacques Tati aus dem Jahr 1953. Bicks Repertoire reicht von Edvard Grieg bis zum Leitmotiv aus David Lynchs Fernsehserie „Twin Peaks“. Nach zehn turbulenten Folgen geht es für sämtliche Figuren zu einer „Pauschalreise nach Hause“ – allen wird offiziell ihre Urlaubsfähigkeit bescheinigt. Und auch als Hörer fühlt man sich erfrischt und urlaubsreif zugleich.
Jochen Meißner – KNA Mediendienst, 16.05.2025
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