Dokumentation, Lukas Holliger: Eine Flugzeugkatastrophe als Hörspiel?
Eine Flugzeugkatastrophe als Hörspiel?
Von Lukas Holliger
Jeder kann am Fernsehgerät den Ton abschalten und erleben, wie viel intensiver die Mimik, die Körpersprache, die Räume wirken. Klar. Das Gehirn möchte weiterhin verstehen und klammert sich an jedes Indiz. Das Hörspiel beherrscht das Gegenteil. Es lässt die Bilder weg. Unser Blick muss sich nach innen wenden. Mit dem Erfahrungsschatz unseres Gehirns füllen wir die leeren Leinwände, gewoben aus Frequenzen, Noten und Worten. Das berühmte Kino im Kopf entsteht.
Historisch war das Hörspiel lange Zeit das exakte Gegenstück zum Stummfilm. Aber im Gegensatz zum Stummfilm hat das Hörspiel die Erfindung des Tonfilms überlebt. Warum? Weil es an eine autonome Institution gebunden war, das Radio? Weil es seinen ureigenen Zugriff auf Stoffe gefunden hatte? Wer Stummfilme mag, weiß, dass das tonlose Erzählen noch heute Potenzial hätte. Hörspiele nutzten ihre Möglichkeiten des Geschichtenerzählens und Verführens jedenfalls bis ins 21. Jahrhundert virtuos. Zwar vergessen vom medial aufgestauten Mainstream des Films und Fernsehens, aber mit einer treuen und massiv unterschätzten Hörerschaft.
Ohne Naturalismus gibt’s keine Massenwirkung. Naturalismus war trotz allen Ehrgeizes von Geräuscharchiven jedoch nie die Kraft des Hörspiels. Innovationslust, eine Verpflichtung zur sogenannten „Erweiterung des Sagbaren“, neue Klänge, assoziative Dramaturgie, Kompositionen von Erzählebenen, Collagen – das alles trieb und treibt das Hörspiel viel mehr an. Der Grund steckt auch in der Kürze. 50 Minuten zwingen zu ökonomischem Denken. Künstlerisch muss das positive Effekte haben. Hörspiele sind das Medium der Verdichtung, und das auch in Zeiten der Globalisierung, der enormen Ausdehnung unseres Wahrnehmungshorizonts auf Wissenschaft, Technik, ethnische Vielfalt. Beschleunigung, Aufsplitterung, neue Verfremdungseffekte – dem allen zeigen sich zeitgenössische Hörstücke wunderbar gewachsen. Das Hörspiel ist extrem geeignet für komplexe Stoffe.
Als mich das Theater Konstanz vor fünf Jahren fragte, ob ich ein Theaterstück über die Flugzeugkatastrophe von Überlingen schreiben könne, wollte ich sofort ablehnen. Abstürzende Flugzeuge auf einer Bühne? Im Internet fand ich unzählige Medienberichte, TV-Dokumentationen und die vollständigen Unfallberichte zum Downloaden. Es schien alles gesagt, alles gezeigt.
Zwei Dinge gaben den Ausschlag, dass ich den Auftrag dennoch annahm. Meine Sprachlosigkeit und meine Empörung. Eine Kombination, die Autoren nicht gut schlafen lässt. Ich wollte herausfinden, ob ich für den tragischen Stoff nicht doch eine eigene Form finden würde. Nicht zuletzt wollte ich auch dem Benehmen der Zürcher Flugsicherung Skyguide auf den Grund gehen, weil es mir landestypisch erschien: keine Fehlerkultur, der eigene Glaube ans Klischee schweizerischer Perfektion, finanzielles Denken über moralischem Denken.
Für die Theaterbühne entstand die fiktive Rahmenhandlung zweier befreundeter Ehepaare, die sich in Kreta Erholung gönnen, sich zerstreiten und die Verspätung just jener Urlaubsmaschine verschulden, die den Lotsen in der Unglücksnacht ablenkte. Urlaubsbanalitäten ließ ich aufeinanderprallen mit dem Schicksal eines Familienvaters, der Kinder und Frau verlor und später den verantwortlichen Fluglotsen tötete.
Weil mich diese Theaterkonzession, diese theatralisch zwar wirksame, aber den Stoff verwässernde Rahmenhandlung nie ganz befriedigte, kürzte ich die Bühnenfassung später radikal ein und suchte mit dem nackten Material noch einmal einen neuen Weg. Der Weg führte ins Hörspiel. Ich stieß auf das, was eben nur das Radio kann. Intime Konzentration auf Sprache in Zimmerlautstärke. Kein Sprechen für die dritte Reihe Balkon, keine Ablenkung durch Filmbilder oder blutige Hosen eines Schauspielers. Im Zentrum nur die Worte der beiden Opfer – des Lotsen und des Hinterbliebenen.
Aus Zeitungsartikeln, in denen Zitate zu finden waren, hatte ich die Worte zusammengesucht und dann in eigene Sätze übersetzt. Ich habe versucht, größtmögliche Einfühlung zu beweisen, ohne sentimental, kitschig oder moralisch zu werden. Sozusagen ein objektiver, dennoch poetischer, ein authentischer, dennoch artifizieller Arbeitsansatz. Rund um die beiden Männer dann sämtliche Sprachebenen des Unglücks geschichtet: saloppe Umgangssprache, Strafrecht, Boulevard, Poesie, psychiatrische Gutachten, Augenzeugenberichte, Unfallberichte, technischen Daten. Eine Collage von Sprachmaterial. Ich behaupte: Einen so vielschichtigen Stoff auf 50 Minuten zu verdichten und in dieser Konzentration das ganze menschliche Panorama und Drama abzubilden, das schafft nur das Hörspiel. Diese Fähigkeit verpflichtet!
Funkkorrespondenz 23/2013
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