Verräterische Bilder
Wie heute bekanntgegeben wurde, geht der 66. Hörspielpreises der Kriegsblinden an das Hörspiel „Screener“ von Lucas Derycke. Die Preisverleihung findet am Mittwoch, dem 17. Mai um 17 Uhr im Funkhaus des Deutschlandfunks (DLF) am Raderberggürtel in Köln statt. Das Stück ist zusammen mit den beiden anderen nominierten auf der Website der Film- und Medienstiftung NRW, die zusammen mit dem Bund der Kriegsblinden Deutschlands den Preis trägt, nachzuhören. Die Begründungen der 14-köpfigen Jury für die drei Nominierungen finden sich hier.
Die drei Finalisten des Hörspielpreises der Kriegsblinden 2017
Darauf, dass ein Bild ein Bild ist und keine Pfeife, hat schon 1929 der belgische Surrealist René Magritte hingewiesen, als er seinem Gemälde „La trahison des images“ („Der Verrat der Bilder“) den Satz „Ceci n’est pas une pipe“ („Das ist keine Pfeife“) beigesellte und damit die Text-Bild-Schere, wenn schon nicht erfunden, so doch popularisiert hat. In den audiovisuellen Medien kommt dieses Phänomen als Ton-Bild-Schere vor und als Ton-Text-Schere in den akustischen. Was im alltäglichen Mediengebrauch für (meist unfreiwillige) Komik sorgt, beispielsweise wenn die Metapher vom „kreisenden Pleitegeier“ mit den Vögeln der Gattung Aegypiinae bebildert wird, kann auch als künstlerisches Stilmittel produktiv gemacht werden. Die drei Finalisten des 66. Hörspielpreises der Kriegsblinden – „Evangelium Pasolini“ von Arnold Stadler und Oliver Sturm, „Screener“ von Lucas Derycke und „Mein Herz ist leer“ von Werner Fritsch – arbeiten mit je eigenen Mitteln an den Paradoxien der Verhältnisse von Ton und Bild.
Offensichtlich und vor aller Ohren geschieht das im vom Hessischen Rundfunk (HR) und Deutschlandfunk (DLF) koproduzierten Stück „Evangelium Pasolini“, das schon als Hörspiel des Jahres 2016 ausgezeichnet wurde. Basis dieses Hörspiels ist Pier Paolo Pasolinis Schwarzweißfilm „„Il Vangelo Secondo Matteo“ („Das 1. Evangelium – Matthäus“) aus dem Jahr 1964. Der Schriftsteller und ehemalige Priesterseminarist Arnold Stadler erzählt in „Evangelium Pasolini“ nicht nur den Plot der Passionsgeschichte nach, es werden auch die Bildeinstellungen und Kamerafahrten beschrieben. Zusätzlich trifft das Film-Drehbuch auf Motive des Romans „Salvatore“ von Arnold Stadler und die Geschichte des gewaltsamen Todes Pasolinis ist ein weiterer integraler Bestandteil des Hörspiels.
Der Humanismus der Autoren
In diesem Reigen aus Referenzen (und Differenzen) kommt sogar das vor, was in der Unterscheidung von Bild und Abgebildetem, von Objekt und seiner Repräsentation unsichtbar ist, nämlich der Akt der Unterscheidung selbst. Es ist der Schnitt, der, selbst nicht hörbar, erst in der Unterscheidung von Vorherigem und Nachfolgenden merkbar wird und den Regisseur Oliver Sturm mit akustischen Signalen markiert hat. Denn das Hörspiel ist anders als das Theater, aber ähnlich wie der Film ein Medium des Schnitts, auch wenn dabei heutzutage keine Scheren mehr zum Einsatz kommen, die allerdings noch als Metaphern für das Auseinanderklaffen von Sinn und Bedeutung benutzt werden können.
In Arnold Stadlers und Oliver Sturms 66-minütigem Hörspiel geht es um die Geschichte eines Verrats, eines Verrats, der durch einen Kuss ins Bild gesetzt wird. Das Verräterische an den Film- wie an den Hörbilden, die hier vor Ohren geführt werden, ist, dass durch sie stets der Humanismus ihrer Autoren (Pasolini, Stadler, Sturm) durchschimmert. Ein Humanismus, der hörbar wird, wenn Arnold Stadler sein Entsetzen formuliert, als Jesus mit fundamentalistischem Furor den Baum verflucht, an dem sich Judas erhängt hat: „Du sollst in Ewigkeit keine Frucht mehr tragen.“
Der Schnitt durch den Rezipienten
Eine andere Art des Entsetzens hört man in „Screener“, dem ersten Langhörspiel des jungen belgischen Autors und Regisseurs Lucas Derycke (Jahrgang 1990). Auch sein Hörspiel basiert auf bewegten Bildern, nämlich auf durchkomponierten Filmbildern, deren erklärte Absicht es ist, Angst und Schrecken zu verbreiten. Doch ihre Materialität ist eine andere als die auf Filmstreifen gebannten Bilder Pasolinis. Es sind digitale Bilder von Folter und Mord, aber auch pornografische Bilder. Felix, die Hauptfigur in Deryckes 43-minütigem WDR-Hörspiel, soll sie sichten, damit sie noch vor Erscheinen aus dem Internet herausgefiltert werden können. „Internet Content Reviewer“ oder kurz „Screener“ nennt sich dieser Job – eine Drecksarbeit, die große Internet-Firmen gerne in die Dritte Welt auslagern.
Man solle sich einreden, dass es sich nur um Pixel ohne Herkunft und ohne Ziel handele, empfiehlt der Teamleiter Felix und den anderen Content Reviewern, und dass man in Gedanken nicht bei dem Opfer sein solle, sondern dass man sich vorstellen solle, dass es nicht echt sei und dass es einen Regisseur gebe. Doch das funktioniert nicht, denn erstens ist der Schrecken real und zweitens gibt es sehr wohl Regisseure, die diese Bilder für eine maximale Wirkung aufbereiten. Schon die Tonspur der authentischen Videos, die Lucas Derycke behutsam einsetzt, vermitteln einen Eindruck dessen, was Felix zu verschlagworten hat: „voice / screwdriver / murder“ oder „gasoline / dog / fire“ oder „disco / fireworks / inferno“ sind nur ein paar jener Tags, mit denen Felix (gesprochen von Andreas Helgi Schmid) den Horror beschreibt, den er und seine Kollegen acht Stunden täglich zu begutachten haben. Es gibt die Bilder vor den Bildern. Bilder der Imagination, die schon die Schilderungen der grausamen Morde der Terrororganisation IS hervorrufen und ihre Wirkung entfalten, auch wenn man sie sich nicht ansieht.
Felix, dem man, bevor er den Job als Screener antrat, in einem Seminar eingetrichtert hat, er solle „Autor seiner eigenen Geschichte“ sein, wird dies tatsächlich. Aber anders als beabsichtigt, nämlich indem er beginnt, seine eigene Welt zu „taggen“ wie die Videos, die er zu sichten hat; „girlfriend / arm / neck“, „leg / knee / push“, so beschreibt er den Annäherungsversuch seiner Freundin, auf den er nicht mehr adäquat reagieren kann. Die toxischen Bilder einer offensiven Inhumanität haben bei Felix eine posttraumatische Belastungsstörung ausgelöst. Im Hörspiel sind es die Sounds der Videos, die seine normale Umwelt infiltrieren, was letztendlich zu einer Abspaltung seines Selbst von sich führt. Der Schnitt geht hier mitten durch die Hauptfigur als den Rezipienten der Bilder des Schreckens.
In der Mitte der Muttersprache
An der Schwelle von Leben und Tod befindet sich der Ich-Erzähler in Werner Fritschs Hörstück, das mit vollem Titel „Mein Herz ist leer / Die wilden Wogen / Kommen und gehen“ lautet. Bei diesem Titel handelt es sich um einen 15-silbigen Haiku, der auf einer Nachdichtung der Gedichte des japanischen Lyrikers Santoka Taneda basiert. Santoka Taneda (1882 bis 1940) gilt als Exponent des „freien Haikus“, der auch schon mit weniger als den traditionellen 17 Silben nach dem Schema 5 – 7 – 5 auskommt. Werner Fritsch hat schon einmal den Hörspielpreis der Kriegsblinden bekommen, 1993 für „Sense“, ein Stück, in dem der brutale Monolog eines Bauern (gespielt von Hans Brenner) zu hören ist, der von seinen Erlebnissen in der Ukraine im Zweiten Weltkrieg erzählt. Auch „Mein Herz ist leer“ ist ein Monolog, doch von gänzlich anderer Tonalität.
Die akustischen Bilder, die in dem 52-minütigen Hörstück, einer Koproduktion von Deutschlandradio Kultur und Radio Bremen, gemalt werden basieren auf der erfahrungsgesättigten Stimme des 73-jährigen Schauspielers Michael Altmann und dem Sounddesign der Komponistin Miki Yui. Ihre Klangwelten speisen sich unter anderem aus Fieldrecordings in der Natur. Doch die Natur ist nicht immer ein freundlicher Ort und Idyllen sind selten: „Auf eisiger Erde / Zwischen Leben und Tod / Fällt Schnee unaufhörlich“. Das ist im Stück der Ausgangspunkt für die Rückschau des lyrischen Ichs auf sein zurückliegendes Leben: fiebrig auf eisiger Erde liegend. Ein Leben, das nach dem traditionellen Topos des natürlichen Kreislaufs der Jahreszeiten erzählt wird, auch wenn ab und zu Objekte der Zivilisation wie ein Aufzug oder ein Radio vorkommen und die Eisenbahn durchs akustische Panorama fährt.
Der Weg durch die Welt führt das lyrische Ich zwischenzeitlich wieder in sein Geburtsdorf, in dem es feststellt: „Ich sitze in der Mitte meiner Muttersprache.“ Das japanische Original der Verse Santokas wird nur punktuell eingesetzt (gesprochen von Kae Uchihashi), als eine Art Farbtupfer, der den Ursprung des Textes verrät. Hier wird eine Symbiose von Text und Ton und Bild beschworen. Oder um es in Anlehnung an Gertrude Stein, einer Zeitgenossin Magrittes, zu formulieren: Eine Rose ist eine ‚ro:zə ist eine –(–(@.
Jochen Meißner – Medienkorrespondenz 9/2017
Schreibe einen Kommentar