Subtil und suggestiv
Robert Schoen: Ein verrauchtes Idyll
HR 2 Kultur, So 10.01.2016, 14.00 bis 14.50 Uhr
Nachdem Robert Schoen im Mai 2015 bei den Hörspieltagen in der niederösterreichischen Stadtgemeinde Neulengbach in der Villa Berging sein Stück „Ein verrauchtes Idyll“ vorgestellt hatte, war die Diskussion denkbar kurz. Zu beeindruckt und angerührt war man noch vom gerade Gehörten. Da war diese kreischig-brüchige und zunächst kaum verständliche Stimme einer Frau, die nach Hilfe ruft, während im Hintergrund der Wissenschaftsjournalist Horst Stern von Ameisenkriegen erzählt. Anschließend flüstert ein Mädchen: „Ich bin vier Jahre alt. Vor 250 Millionen Jahren begann ich meine Existenz im Körper einer Ameise. Ich werde sterben, wenn ich hundert Jahre alt bin.“ Darunter liegen minimalistische Klänge aus Kompositionen von Arvo Pärt und Ludovico Einaudi. Ebenfalls im Hintergrund – „aus dem Fernseher blinzelt sie der Wahnsinn an“ – besteht die Mutter darauf, dass Schlafenszeit sei.
Die Frau vom Anfang ist Luise Nachbar, eine Hundertjährige des Jahrgangs 1914. Später wird sie aus ihrem löchrigen Gedächtnis Goethes Ballade vom Zauberlehrling rezitieren. Es ist nicht die einzige Hundertjährige, die der Autor und Regisseur Robert Schoen in seinem rund 50-minütigen Hörspiel „Ein verrauchtes Idyll“ zu Wort kommen lässt. Doch es sind nicht immer ihre eigenen Worte, die sie aussprechen, sondern auch die von Empedokles, Goethe, Nietzsche, Rilke oder Else Lasker-Schüler bis hin zu Freddy Quinn, Urs Widmer, Ernst Meister und Dieter Wellershoff. Und auch das vierjährige Mädchen zitiert die Variation eines Satzes von Wittgenstein: „Die Mauern meiner Welt sind die Wörter, die ich errichte. Sie schützen mich gegen die Leere und halten das Nichts im Zaum. In den Worten werde ich mich auflösen.“
Das Kind, in einer Doppelbesetzung von der vierjährigen Nora und der sechsjährigen Fanny gespielt, wächst in einer Welt auf, die bald 10 Milliarden Menschen beherbergen wird und in den nächsten vierzig Jahren mehr Nahrungsmittel verbrauchen wird, als in den letzten 10.000 Jahren produziert worden sind. Dies sind Zahlen, die dem vom britischen Computerwissenschaftler Stephen Emmott verfassten Bestseller „10 Milliarden“ entnommen sind, der sich mit Simulationen und Modellrechnungen auskennt.
Dass die Kulturgeschichte des Menschen in den Dimensionen geologischer Zeiträume aufgefasst werden kann, weiß man aus dem Werken Alexander Kluges. Dass die Beschreibung eines Ameisenstaates die Metaphern enthüllt, mit denen auch die Verhältnisse der menschlichen Gesellschaft beschrieben werden, hört man bei Horst Stern. Fünfzig Jahre nach der Ursendung seines Radiofeatures „Ameisenkrieg und Drohnenschlacht“ (SDR 1965) durchglänzt Sterns Formulierungstalent die Patina, die auf seinem Stück liegt. Zumal sich der Bedeutungshorizont des Begriffs „Drohne“ vom Tierreich in das der unbemannten Kriegsführung erweitert und damit eine neue Ebene metaphorischen Hörens erreicht hat.
Robert Schoen kombiniert beide Großdimensionen der Weltdeutung und setzt als humanes Gegengewicht Ausschnitte aus Gerhard Aberles O-Ton-Feature „Der Stehausschank: Bar der kleinen Leute“ (BR 1969) ein. Und eine Kneipe – das sprichwörtliche „verrauchte Idyll“ – ist bekanntlich der Ort, den man aufsucht, um Bier zu trinken („und nicht nur eins, sondern diverse“) und um dummes Zeug zu reden. Was blitzartige Erkenntnisse nicht ausschließt: „Wenn einer 40 Glas Bier trinkt, ja – der hat wohl keine eigene Meinung mehr“, sagt einer der Gäste in einer Stehkneipe. Schoens Stück hat aber nichts mit den dokumentarischen Hörspielformen zu tun, die sich im letzten Jahrzehnt im Hörspiel großer Beliebtheit erfreut haben. Das Dokumentarische ist ihm hier ebenso Material wie das Lyrische und das Musikalische.
Warum die Stimmen der Hundertjährigen (acht Frauen und ein Mann) so berühren, liegt nicht an ihren Lebensgeschichten. Die werden nur am Schluss kurz angerissen. Die Alten sind weder Objekte voyeuristischer Betrachtung noch erscheinen sie als besonders weise noch sind es Sprechdienstleister für schlaue Sätze. Es muss etwas mit ihren Stimmen zu tun haben, dass, was sie sagen, so berührt, und mit der ebenso subtilen wie suggestiven Mischung von Robert Schoen, die diese lyrischen Texte jeder Bedeutungshuberei enthebt und sie gerade deshalb umso bedeutsamer erscheinen lässt.
Gemeinsam ist den Hundertjährigen an der Schwelle des Todes das Bedürfnis nach Transzendenz, das sie mit den Kneipengängern von vor fünfzig Jahren teilen. Genauer gesagt ist es ein religiöses Bedürfnis, dass sich als ein Kern des Humanums artikuliert – ein anderer ist der Wunsch, sich in den Worten aufzulösen. Am Ende zitiert Schoen den Mythos von der Büchse der Pandora in der Fassung von Friedrich Nietzsche, in der das letzte und größte Übel die Hoffnung ist. Die Natur ist kein freundlicher Ort und die Kultur ein verrauchtes Idyll – bestenfalls. Dieses Hörspiel – eigentlich das letzte des 100-jährgen Weltkriegsjubiläumsjahres 2014 – ist einer der Höhepunkte des Jahres 2016.
Jochen Meißner – Medienkorrespondenz 02/16
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