Nichts ist so, wie es scheint
Ein Nachruf auf den Hörspielautor Hubert Wiedfeld (1937 bis 2013)
Von Peter Liermann
Fast fünfundvierzig Jahre hat Hubert Wiedfeld für das Radio gearbeitet und über fünfunddreißig Hörspiele geschrieben, für nahezu alle Sender, einige davon Mehrteiler, die meisten opulente, lange und sehr komplexe Stücke. Kein geringes Werk also, das im Laufe der Zeit mit allerhand Preisen ausgezeichnet wurde, u.a. mit dem dem »Preis der Frankfurter Autorenstiftung«, dem »Prix Italia« (1972 für seine Hörspielcollage »Crueland«), dem »Hörspiel des Jahres« (1991 für das Hörspiel »Der Schatten und sein Schatten«) und zuletzt 2011 mit dem »Günter-Eich-Preis« für sein Lebenswerk.
Wiedfeld wurde 1937 in Braunschweig geboren, nach einer Banklehre besuchte er das Abendgymnasium, arbeitete in einer Jugendstrafanstalt sowie einem Heil- und Pflegeheim, um anschließend Psychologie und Germanistik zu studieren. Ab 1966 entstanden erste literarische Arbeiten. Durchaus möglich, daß seiner langen Liebe zum Radio eine Kränkung zugrunde liegt. Im Februar 1970 erschien im Suhrkamp Verlag sein Roman »Rätzel« über einen Angestellten gleichen Namens, der die Generalversammlung einer Kleinstadtbank zum Anlaß nimmt, um die einzelnen Akteure aus einer Fülle historischer Details, persönlicher Erfahrungen und Angelesenem zusammenzusetzen – sie werden zu Geschöpfen seines Bewußtseins. Schon in diesem Roman wird ein Collageverfahren erkennbar, das sein weiteres Œvre begleiten wird. Es kam zum Bruch mit dem Verleger, und so blieb es bei diesem einzigen Roman.
Ennio Flaiano, der italienische Schriftsteller, der vor allem aber als Drehbuchautor für so unterschiedliche Filmautoren wie Marcellini, Antonioni oder Fellini bekannt wurde, schrieb einmal in seinem »Nächtlichen Tagebuch«, man brilliere in einer Gattung nur in dem Maße, in dem man sie nicht liebt. Er mußte es wissen, denn auch er schrieb nur einen Roman und wandte sich dann sehr erfolgreich dem Film zu. Und möglicherweise trifft dies auch auf Hubert Wiedfeld zu – sehr zum Glück für das Hörspiel, denn daß seine Radioarbeiten zu den profiliertesten literarischen Stücken dieses Genres gehören, ist unbestritten.
Es sind sehr unterschiedliche Stücke, die in dieser langen Zeit entstanden sind; so finden sich von O-Ton-Recherchen ausgehende sozialrealistische Hörspiele ebenso in seinem Werkverzeichnis wie ganz in der sprachkritischen Tradition des »Neuen Hörspiels« stehende Stücke. Eine Abkehr vom »bloß« realistischen Erzählen und erster Wendepunkt stellt seine Kollrott-Tetralogie dar; was zunächst als eine Art familienbiographische Selbstvergewisserung erscheint (vor allem eine nachgereichte Liebeserklärung an den Vater), wird zunehmend vielschichtiger, fiktiver auch, und gerät schließlich zu einem historiographischen Vexierspiel. Wiedfelds künstlerisches Schaffen ist geprägt durch eine stetige Erweiterung seiner literarischen Ausdrucksmittel. Neben dem Ausloten der Erzählmuster der Kriminal- und Detektivgeschichte stehen künstlerische Versuche mit den collageartigen Bildwelten des Surrealismus. Die komplexen und dichterisch intensiven Stücke sind der Versuch einer künstlerischen Weltaneignung, die nicht zuletzt auch die akustischen Möglichkeiten des Radios bis an seine Grenzen herausfordern.
Wiedfelds Stücke finden ihre Schönheit im Rätselhaften, die Lust am Geheimnis ist ihr Movens; so verschlungen und geheimnisvoll sie auch scheinen, folgen sie doch dabei einer Grundregel der Kriminalistik: »Nichts bleibt für immer verborgen.« Auch zu verstehen als eine spielerisch-lustvolle Aufforderung zum wiederholten Hinschauen respektive Hören. Die zahlreichen palimpsestartigen Überlagerungen und Wendungen in seinen Stücken nehmen im Lauf der Jahre weiter zu; zunächst einmal weg vom Naheliegenden und Augenscheinlichen scheinen sie zu sagen: Nichts ist so wie es scheint. Obgleich die Stücke Wiedfelds ganz dem Akustischen verpflichtet sind (und immer große hörspielästhetische Herausforderungen für ihre Realisatoren darstellten), kommen sie doch ganz woanders her. Die zahlreichen Verweise auf Bilder, Filme, Musiken, die verarbeiteten Lesefunde und Zitate, das Springen aus der Erzählebene ins Erinnerte, und schließlich wieder in eine andere, »historische«, Zeit, sind eng eingebunden in Collageformen, die große rhythmische und musikalische Bögen verfolgen. (Man denke nur an seinen monumentalen Monolog »Vom Schlaf in den Steinen«.)
Irgendwo war zu lesen, Wiedfelds Werk spiegele (auch) »Deutsche Geschichte« – vielleicht sollte man das Verb durch ein anderes ersetzen, durch »reflektieren«; es reflektiert die Dinge, so wie die Oberfläche eines Gewässers die Sonnenstrahlen reflektiert und sie dabei in vielerlei Richtungen tanzen, sie da und dort funkelnd aufblitzen läßt, um zu erlöschen und an anderer Stelle wieder aufzuscheinen. Die beschienene Stelle gleicht tanzenden Irrlichtern, federleicht umkreisen sie sie und geben ihr immer wieder neue Ansichten. Augenblicke, die sich verdichten, indem sie immer neue Möglichkeiten eröffnen. So (er)findet und gestaltet Wiedfeld seine vielfältigen Sujets. Nichts bedeutet einfach »Etwas«, es bedeutet eher Vielerlei in immer neuer Ansicht. Es ist kein Zufall, daß er eine besondere Affinität hat zu den Bildern von Malern wie Max Ernst oder René Magritte.
Sein Hörspiel »Der Schatten und sein Schatten« ist der Versuch, ausgehend von einem Exposé René Magrittes, dessen Bilderwelt in das akustische Medium zu übertragen. Die mannigfaltige Diversifizierung von Identitäten bis hin zu ihrer gänzlichen Auflösung geraten bei Wiedfeld zu einem vergnüglichen aleatorischen Spiel (ein häufig gebrauchter Name in seinen Stücken »Leo Raat«, i.e. Aleator). Im »Ende des Schlittenbaus« unterzieht Wiedfeld das Genre der Detektivgeschichte einer surrealen und postmodernen »Übermalung«, indem er den Protagonisten, einen Detektiv, jene Morde aufklären läßt, die er selbst begangen hat, Morde aus Kunstsinn und verrückter Liebe, sein Opfer: eine Sängerin, der ihre Stimme, vor allem aber die Schallplatte zur Unsterblichkeit verhelfen.
Am 2. Juni 2013 ist Hubert Wiedfeld fünfundsiebzigjährig nach langer, schwerer Krankheit in Hamburg gestorben.
Peter Liermann, 56, ist Redakteur und Dramaturg in der Hörspielabteilung des Hessischen Rundfunks (HR) in Frankfurt.
Funkkorrespondenz 42/2013
Ein Text von Reinhard Döhl über Hubert Wiedfeld aus dem Jahr 1996 findet sich hier.
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