Dokumentation, Liquid Penguin Ensemble: Hommage ans Material

Fürs akustische Medium: „Ickelsamers Alphabet – Dictionarium der zierlichen Wörter“

Von Katharina Bihler und Stefan Scheib

Stefan Scheib und Katharina Bihler (Liquid Penguin Ensemble) im Gespräch mit Ute Soldierer © Heike Herbertz / Film- und Medienstiftung NRW

Stefan Scheib und Katharina Bihler (Liquid Penguin Ensemble) im Gespräch mit Ute Soldierer
© Heike Herbertz / Film- und Medienstiftung NRW

Auf den ersten deutschen Grammatiker Valentinus Ickelsamer aus dem 16. Jahrhundert stoßen wir beim Stöbern in „Grimms Wörterbuch“. Wir sind auf der Suche nach der alten Bedeutung des Wortes „rastern“, das nach einem Zitat aus dem 18. Jahrhundert einst etwas anderes ausdrückte als heute und nichts Visuelles beschrieb („ein Bild in viele einzelne Punkte zerlegen“), sondern etwas Hörbares: das Geräusch von Wasser, wenn es von der Strömung durch das Sieb einer Sandbank gedrückt wird.

In „Grimms Wörterbuch“ finden wir unter dem Buchstaben „R“ wie „rastern“ noch vor dem ersten Wort, das mit R beginnt, den folgenden Eintrag:

„R. […] sein laut ist mit dem knurren eines hundes verglichen und ihm der name des hundsbuchstaben gegeben worden, lat. litera canina, und danach bei Ickelsamer: das /r/ ist ain hundts buchstab / wann er zornig die zene blickt und nerret / so die zung kraus zittert.“

Ickelsamer. Das R, der Hundsbuchstab. So fängt es an.

Auch im eigenen mittelalemannischen Mutterdialekt wird das R mit kraus zitternder Zunge ausgesprochen. Was steht unter S?

„Das /s/ ist ein subtil pfeisung oder sibiln aus auffeinander stossung der zene / wie die jungen Tauben oder Nateren sibilen oder zischen.“

Und so fort. Unter fast allen Buchstaben finden wir Valentinus Ickelsamer. Allein sein schöner Name macht neugierig.

Wir erwerben antiquarisch seine „Teütsche Grammatika“ und finden darin das Kapitel „von subtiligkait der buochstaben“, aus dem im Grimm zitiert wird. Anleitungen zur mündlichen Lautbildung. Buchstabenlehre. Klangfarbenlehre.

das /g/ so die zung das hinderst des guomens berürt / wie die Gens pfeysen“. „das /i/ ist fast der laut des kirzens der Sew / wenn mans sticht oder würget.“ „Das /o/ mit dem athem eines runden gescheübelten munds / und ist der starck laut / der die pferd still stehn macht.“

O! Wir bekommen den Eindruck, dass dieses Kapitel den Kern unseres künstlerischen Interesses berühren könnte: den Punkt, an dem Musik und Sprache einander begegnen, in den kleinsten Teilen, aus denen beide zusammengesetzt sind, den Lauten. In ihrer ganzen – mitunter tierischen – Ausdruckskraft.

Eine Feier hat Ickelsamer verdient, finden wir. In einer Live-Performance begehen wir den 479. Jahrestag des ersten Erscheinens der ersten teutschen Grammatika, mit erfundenen Festreden aus den letzten fünf Jahrhunderten, mit Widmungsgedichten an Buchstaben, mit Musik und Lobliedern aus den gesammelten Lieblingsworten der mitwirkenden Musiker und Performerinnen. Und weil unser Ensemble – und unser Publikum – ein zweisprachiges ist, feiern wir den ersten französischen Grammatiker gleich mit: Louis Meigret, ein Zeitgenosse Ickelsamers. Eine zweisprachige Performance für Publikum von hüben und drüben wird daraus, gespeist aus dem Vergnügen am Klang der Sprachen der beiden Nachbarländer Deutschland und Frankreich.

Internet und Antiquariate

Das reicht aber noch nicht. Wie schon nach anderen Live-Projekten reizt es uns wieder – und diesmal ganz besonders – weiterzuarbeiten. Fürs rein akustische Medium. Fürs Hörspiel. Weil es diesmal ums Material selbst geht, aus dem Hörspiel besteht: Stimme, Geräusch. Klang, Rede. Wort, Musik.

Und auf einmal gibt es sehr viel zu tun. Musiker treffen. Streicher, Holzbläser, Perkussionisten. Ickelsamers Lautbildungsanweisungen für Instrumente fruchtbar machen. Ein „haymliches“ B spielen. Finger auf Saite drücken und loslassen. Ein M spielen, „ain brummende stimm / wie die Küe / und die Bern / “. Bogen weich einsetzen. Verschiedene Qualitäten des R erforschen. Kontrabassklarinette mit Flatterzunge, Gewindestab auf Trommelrahmen, Kerbholz über Bass-Saite ziehen. Zischer produzieren. Luft ins Blasrohr, Sandpapier auf Trommelfell, tonlose Bogengeräusche als H, SCH und CH – wie Chamäleon. Musik komponieren, die diese Spieltechniken einsetzt.

Literatur über die beiden vergessenen ersten Grammatiker aus den Tiefen des Internets und der Antiquariate fischen. Ob Ickelsamer und Meigret einander hätten begegnen können? Mehr über die Entwicklung der französischen Sprache in Erfahrung bringen; wie sich in deren Wörtern über die Jahrhunderte stumme Buchstaben angesammelt haben, die gar nicht ausgesprochen werden. Die Dürer-Ausstellung in Frankfurt besuchen. Die Flugblätter, die zu Ickelsamers Zeit aufkamen, studieren. Abbildungen von menschlichen und tierischen Sensationen. Fischmenschen. Sechsbeinige Hunde. Päpstliche Elefanten und Nashörner. Ausdrucken. Die Tiere ausschneiden und ein Mobile daraus basteln.

Die Runkelrübe zum Beispiel

Sich eine Vorstellung von Ickelsamer und Meigret machen. Sie collagieren aus Zeichnungen von jungen Männern dieser Zeit. Und zufällig den Holzschnitt eines Buchstabenbaums finden, unter dem ein Lehrer mit seinen Schülern sitzt. Wörter sammeln. Die Mund und Ohr beim Aussprechen Vergnügen bereiten. Wasseramsel, Irrlicht, Rabauke, Schlickkrebs und Leguan. Viele Tiernamen sind darunter. Dornteufel, Kragenechse, schrundige Agamen.

Im Tiergarten scharwenzeln. Fabulieren. Im frühneuhochdeutschen Wörterbuch blättern und Wörter entdecken, die im eigenen Mutterdialekt noch erhalten sind, obwohl unsere Hochsprache sie schon lange nicht mehr kennt („glufe“ für Nadel). Entdecken, dass ein Chamäleon einst auch „ertleo“ geheißen wurde und eine Seerose „grundwurz“.

Wörter ordnen. Die Schönsten zuerst. Nach Klang. Nach Buchstabenprominenz. Wörter auf Kärtchen schreiben, mischen, hintereinanderlegen und den Satz, der entsteht, für bare Münze nehmen. Die Wortkärtchen nach Buchstabenklängen sortieren, über Nacht in einem Kästchen einschließen und am nächsten Morgen nachschauen, zu welchem Sinn sie sich zusammengetan haben. Im Liegestuhl lümmeln. Dösend Buchstaben, Wörter und Geschichten baumeln lassen. Wieder zu den Wortkärtchen greifen. Nachschauen, ob man ein schönes übersehen hat. Die Runkelrübe zum Beispiel. Sie gehört ins Märchen. Zum Kapaun.

Die Wörter sind Wirklichkeit

Den Kopf ausschütten aufs Papier. Die Geschichte finden, die alles erzählt. Hab ich nicht eine französische Großcousine? Mit der ich wörterspielend die Kindheit verbracht habe? Die französische Großcousine steuert eigene Listen mit französischen Tiernamen und Lieblingswörtern bei und einen Trinkspruch aufs stumme französische H, den heimlichsten Buchstaben von allen.

Und dann die ganze luftige Gleichzeitigkeit der recherchierten Elemente, der Geschichten, Klänge, Zitate, Assoziationen durch ein zeitliches Sieb streichen, damit daraus eine lineare Stunde wird. Eine ganz elende Arbeit, aber sie muss sein, sonst wird nichts draus. Festklopfen.

Die französische Großcousine übersetzt schattenhaft nah die deutschen Texte ins Französische. Beim Aufnehmen, das Festgeklopfte wieder zum Schwirren bringen. In hundert Varianten. Und in hundert Einzelteilen: das ABC, alle Arten von Ts und Ks. Tags darauf die Aufnahmen mit Élodie Brochier oder Christian Higer anhören. Echte Stimmen. Und was für welche! Was für ein Glück. Die Wörter sind Wirklichkeit. Auch alles andere aufnehmen. Klanggesten und Geräusche. Phrasen. Improvisationen über Buchstaben. Und die komponierten Intermezzi.

Montieren. Qual der Wahl zwischen den Varianten. Wenn jenes so, dann das folgende Element so, wenn jenes anders, dann auch das nächste Element ein anderes. Aneinanderreihen, aufeinandertürmen, ineinanderschachteln, auseinanderziehen. Dem Zufall eine Chance geben. Klangschatten zwischen Sprache(n), Instrumentenklängen und Tierlauten finden. Ihrer akustischen Mimikry auf die Spur kommen. Und wie sie einander rhythmisieren.

Alles räumlich anordnen. Die Ohren sitzen rechts und links, der Kopf dazwischen, in dem es klingt. Liegen lassen. Wieder anhören. Neue Räume einrichten. Sätze weglassen. Teile umordnen. Wieder liegen lassen. Zum Schluss nicht mehr aufhören. Zwei, drei Nächte durcharbeiten. Bis eines frühen Morgens, zwischen Wach und Tag, sich der naupengeheuerliche Nebel lichtet und tatsächlich alles fertig ist. Es wurde das Hörspiel „Ickelsamers Alphabet – Dictionarium der zierlichen Wörter“.

Unsere Redakteurin und Dramaturgin beim Saarländischen Rundfunk, Anette Kührmeyer, hat das alles von Anfang an begleitet. Sich vom Getümmel unserer ersten Gedanken nicht abschrecken lassen und hilfreiche, mitunter entscheidende Anmerkungen dazu gemacht. Die langen Phasen unseres schweigsamen Abtauchens ausgehalten. An verschiedenen Stellen und bei mehreren Treffen kommentiert. Geduldig und sehr klug.

 

Begründung der Nominierung

Ein Hör-Vergnügen für die Jury, wie Buchstaben zum Tönen, Singen, Schnurren, Lispeln, Hauchen, Klingen gebracht werden. Dieser höchst amüsante Chor wird von Sprechern vorgetragen, die mit Lust zwischen Klängen und Sprachen wechseln, vom zirpenden „Z“ einer kleinen Spitzmaus zum dröhnenden „O“, das Pferde zum Halten bringt, von alemannischen Brocken zum altmodischem Deutsch der Renaissance, zum Französisch. Die Musik von Stefan Scheib gibt die passende Orchestrierung zu diesem Chor, verstärkt oder konterkariert die tönenden Buchstaben, gibt ironische Akzente, lotst uns akustisch in die etwas befremdliche Welt des Grammatikers Ickelsamer.

Mit Freude folgen wir dessen Assoziationen, hören im „A“ den Widerhall einer Axt im Walde, im „E“ Ziegen und Schafe schreien, im „M“ Bären brummen, im „Z“ Spatzen zwitschern und im „S“ junge Tauben. Hunde, Schlangen, Gänse, Ochsen werden vom Klang der Buchstaben lebendig, auch ein veritabler Elefant, der mit seinem Rüssel Buchstaben in den Sand malt. Der Klang verdinglicht sich. Die Buchstaben hängen wie Früchte am Baum der Erkenntnis, so beschreibt Ickelsamer die komplizierte Beziehung zwischen Sprache, Schrift und Gegenstand.

Mit einer weiteren Assoziation von Geräuschen und Tieren landet Katharina Bihler in einem anderen Bestiarium; nämlich bei ausgestopften Fabel-Tieren eines naturhistorischen Museums, zu dem eine französische Kusine die Verbindung herstellt. Zwischen diesen befremdlichen Wesen werden tönende Worte getauscht wie Spielkarten, hängt ein Leguan aus Ickelsamers Träumen als Zeichnung an der Wand. Vielleicht ist die Zeichnung sogar von Dürer… Wunderbare Fabelwelt. Wenn es weder die Dürerzeichnung noch die Kusine gibt, so sind sie jedenfalls recht sinnvoll erfunden, und ebenso ein Kaufmann aus Augspurg, der die Kunde von Ickelsamers Buchstaben zu dessen französischem Kollegen bringt. Seltsamste Zufälle und Merkwürdigkeiten… kein Wunder, dass Ickelsamer keines natürlichen Todes stirbt, sondern als Buchstabenkette im Fluss Lech verschwindet.

Der Jury gefiel dieses geistvolle Mäandern zwischen Historie und Phantasie, zwischen dem was war und dem, was auch hätte sein können oder sein sollen. Liquid Penguins Spiel mit Realität wird hier zum höchst amüsanten Spiel mit der Realität von Sprache selbst.

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