Komödiantische Dystopien
Die drei Finalisten des 69. Hörspielpreises der Kriegsblinden 2020
Heute, am 24.6.20 um 11 Uhr, wird auf fimstiftung.de die Verleihung des Hörspielpreises der Kriegsblinden gestreamt. Wer wird der Preisträger des 69. Hörspielpreises der Kriegsblinden sein? Holger Böhme, Wolfram Lotz oder wittmann/zeitblom?
Zwei der drei von der 15-köpfigen Jury für die Endausscheidung des 69. Hörspielpreises der Kriegsblinden nominierten Stücke waren bereits bei den ARD-Hörspieltagen im November 2019 im Zentrum für Kultur und Medien (ZKM) in Karlsruhe zu hören. Beim Wettbewerb im Rahmen der Hörspieltage waren das Diskurs-Hörstück „Audio.Space.Machine“ des Autorenduos wittmann/zeitblom und das erzählerische Hörspiel „Das Ende von Iflingen“ des Dramatikers Wolfram Lotz dabei. Das dritte Stück „Die Entgiftung des Mannes“ von Holger Böhme wäre für die rein weiblich besetzte Wettbewerbsjury in Karlsruhe eigentlich prädestiniert gewesen, nahm die doch bei fast allen Stücken die Repräsentation von Frauenfiguren in den Fokus.
Auf der rechten Seite des Boulevards
Holger Böhmes „Radiokomödie in zehn Szenen“, eine Produktion des Mitteldeutschen Rundfunks (MDR) unter der Regie von Stefan Kanis kann auch in der 54-minütigen Gesamtfassung ihren Nummernrevue-Charakter nicht verleugnen, denn die zehn jeweils gut fünfminütigen Szenen liefen inklusive einer zweiminütigen Bonusfolge vom 4. bis 16. November 2019 im Frühprogramm von MDR Kultur als Kurzhörspiele. Der Mann, den es zu entgiften gilt, ist der im Hörspiel weitgehnd abwesende Jochen, Ehemann von Steffi, der wie viele Ex-DDR-Bewohner unter dem BDT-Syndrom leidet: BDT steht für „böse, dick, traurig“. Seit dem Aufschwung der völkisch-nationalistischen Pegida-Bewegung fühlt Jochen sich aber wieder obenauf. Also versuchen Steffi (Carina Wiese) und ihre alte Freundin Isa (Anja Schneider) in dem Zwei-Frauen-Stück an seiner Dekontamination. Das ist schwieriger als gedacht, zumal wenn man sich in den eigenen Intrigen verheddert und der Mann ähnlich manipulativ mitzuspielen beginnt.
Holger Böhme kann ebenso gewitzte wie witzige Dialoge schreiben und Stefan Kanis vermag sie mit seinen Schauspielerinnen temporeich und mit genauem Timing zu inszenieren. Böhmes Komödie übermalt ihre dunkle Grundierung mit kräftigen Farben und doch scheint sie immer wieder durch. Denn das schleichende Gift im Hintergrund besteht aus ideologischen Versatzstücken, die in einem Sendegebiet, in dem der öffentliche Diskurs massiv nach rechts verschoben worden ist, besonders beliebt sind.
Natürlich geht die Geschichte von der „Entgiftung des Mannes“ gut aus, fast märchenhaft gut. Aber das positive Ende erfordert, vom Strukturellen abzusehen und sich zum Individuellen hinzuwenden. Als bräuchte es nur die systematische ‘Entgiftung’ jedes Einzelnen, um strukturelle Defizite zu beheben. Böhmes Komödienbegriff ist nicht der von Friedrich Dürrenmatt, der in der Komödie die „schlimmstmögliche Wendung“ einer Geschichte realisiert sah, sondern ein eher boulevardesker, was zunächst einmal kein Qualitätsurteil, sondern eine Gattungsbezeichnung ist. Die Jury hat das wohl ähnlich gesehen und das von ihr nominierte Hörspiel als „ein über das ‚Boulevard’ weit hinausgehendes radiogenes witziges Bekehrungsstück“ gelobt.
Gegenseitige Berühmung
Belehrung statt Bekehrung bieten der Autor und Schauspieler Christian Wittmann und der Komponist und Musiker Georg Zeitblom alias wittmann/zeitblom in ihrem diskursiven, als „Bauhaus-Konzept-Album“ bezeichnetem 60-minütiges Hörstück „Audio.Space.Machine“ an (vgl. MK-Kritik). Die Produktion von Deutschlandfunk (federführend), NDR und SWR in Zusammenarbeit mit der Interactive Media Foundation (IMF), entstanden aus Anlass des 100-jährigen Jubiläums der Gründung des Bauhauses, beschäftigt sich mit einem Ideenkomplex der Moderne, der aufgrund seines Funktionalismus für verschiedenste Diskurse anschlussfähig war – auch für totalitäre. Das Stück ist in seiner Konzentration auf strukturelle Phänomene quasi der Gegenpol zu Holger Böhmes Charakterkomödie. Lediglich Bauhaus-Direktor Walter Gropius (Bernhard Schütz) bekommt in dem Hörspiel so etwas wie eine Figurenzeichnung, während seine Gesprächspartner Gedankenlieferanten bleiben.
Inspiriert ist das Stück „Audio.Space.Machine“ unter anderem vom Kulturtheoretiker Bazon Brock. Ausführlich wird aus dessen manifestartiger Analyse „Das Bauhaus als Biskuit – gegen retrospektive Prophetien“ zitiert, in der er deutlich macht, dass die Bauhäusler „ebenso esoterische Propheten des Heils waren, wie sie dem formalistischen Kalkül huldigten“. Wittmann/zeitblom beschreiben das Bauhaus als widersprüchliches Konglomerat aus „zur Metaphysik aufgerüstete Maschinenmetaphern“ und totalen Überwältigungs- und Mobilisierungsphantasien. Doch auch bei offensichtlich anachronistischen Texten, in denen der Architekt und Theoretiker Buckminster („Bucky“) Fuller eine genderneutale „Cyborgian Intelligence in the Arts“ fordert, beginnt der innere Bullshit-Detektor heftig zu blinken.
Ein Kind, das auf seinem Mobiltelefon das an „Pokémon“ erinnernde Spiel „Gropemon“ spielt, bekommt keine Extrapunkte, weil es bestimmte Begriffe oder Personen nicht findet. Das würde Wittmann/Zeitblom auf ihrer diskursiven Schnitzeljagd nicht passieren. Denn neben den üblichen Verdächtigen Hannes Meyer, Johannes Itten, Lázló Moholy-Nagy und Bucky Fuller kommt auch John Cage vor und sogar Kaiser Wilhelm Zwo darf einen O-Ton beisteuern. Wie sagte es Bazon Brock doch so schön in seinem Bauhaus-Text: „Wer befördert nicht seinen Erfolg systematisch durch ‘Parteiungʻ in exklusiven Gemeinschaften auf der Basis gegenseitiger ‘Berühmung’?“
Sinnlosigkeit umgekehrt: Tiekgisolnnis
Wolfram Lotz, der Hörspielautor unter den Dramatikern – um einmal diese Vossianische Antonomasie zu bemühen –, gehört mit seinem 68-minütigen, für den SWR produzierten Hörspiel „Das Ende von Iflingen“ (vgl. MK-Kritik) zum zweiten Mal zu den Finalisten des Hörspielpreises der Kriegsblinden. 2016 war er mit seinem ebenfalls im Auftrag des SWR entstandenen Hörspiel „Die lächerliche Finsternis“ dabei (vgl. MK-Artikel und diesen MK-Artikel).
Wie Holger Böhmes Stück ist auch „Das Ende von Iflingen“ eine Komödie, aber eine ganz im Sinne Friedrich Dürrenmatts. Eine, in der die schlimmstmögliche Wendung bereits eingetreten ist. Erzengel Michael (Wolf-Dietrich Sprenger) und sein Gehilfe, der posaunenbewehrte Hilfsengel Ludwig (Steffen „Schortie“ Scheumann), haben den göttlichen Auftrag, am Tag des jüngsten Gerichts ausnahmslos jeden Bewohner des Dörfchens Iflingen mit flammendem Schwert „zu Asche zu schlachten“. Doch sie kommen zu spät. Das Dorf in der südwestdeutschen Provinz ist menschenleer wie in einer von Ausgangssperren betroffenen Region oder wie in einem postapokalyptischen Szenario.
Die beiden von Haus zu Haus ziehenden Racheengel finden niemanden, den sie auftragsgemäß töten können. Stattdessen treffen sie auf einen im Laub wühlenden Igel (Lars Rudolph), einen durchs Stereobild flatternden Mauersegler (Cathlen Gawlich) und ein auf Selbstverwertung dringendes Schwein (Florian von Manteuffel) – alles fein konstruierte Szenen von grotesker Komik.
Erst am Ende von Iflingen, im letzten Haus des Straßendorfs, der Kirche, sind sämtliche Dorfbewohner versammelt. Im Bewusstsein ihrer unabwendbaren Sündhaftigkeit haben sie sich selbst gerichtet. Irgendetwas mit Gottes Schöpfung muss von Anfang an schiefgegangen sein: „Sinnlosigkeit umgekehrt: Tiekgisolnnis“, heißt es in einem der vielen einzeiligen Statements der Dorfbewohner, die wie ein Inventarverzeichnis von Lebensäußerungen zwischen die Spielszenen gestreut sind. Komponist Peter Kaizar und Regisseur Leonhard Koppelmann haben die absurd-groteske Szenerie spannungsreich mit fast naturalistischen Hörspielmitteln kontrastiert. „Munter oszilliert dieses Endspiel zum Lustspiel und zurück“, meinte die Jury dazu.
Allen drei Finalisten kann man einen gewissen Hang zur komödiantischen Dystopik attestieren. Die Entgiftung eines sprichwörtlichen alten weißen Mannes als Vertreter einer fremdenfeindlichen Ideologie gehört ebenso dazu wie die ironische Brechung der modernistischen Utopien des Bauhauses, die mit verschiedensten anti-humanen Vorstellungen kompatibel sind. Am radikalsten denkt den dystopischen Ansatz Wolfram Lotz zu Ende, indem er im Stil eines analytischen Dramas die Unterwerfung unter einen vernichtungsbereiten Nihilismus exekutiert.
Der Gewinner des diesjährigen Wettbewerbs wird bei der Verleihung des 69. Hörspielpreises der Kriegsblinden am kommenden Mittwoch (24. Juni) bekanntgegeben. Die Verleihung (Beginn: 11.00 Uhr) findet coronabedingt online statt und ist als Podcast auf der Website der Film- und Medienstiftung NRW abrufbar. Die Filmstiftung ist zusammen mit dem Deutschen Blinden- und Sehbehinderten Verband (DBSV) Träger des Preises. Der DBSV übernimmt damit die Rolle des Bundes der Kriegsblinden (BKD), den den Preis seit 1950 ausgerichtet hat.
Jochen Meißner – Medienkorrespondenz 2020
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