Dienstboten der Unterhaltung

Kathrin Röggla: Normalverdiener

Bayern 2, So 03.07.2016, 15.00 bis 15.55 Uhr

ER hätte ruhig ein bisschen freundlicher sein können, wenn ER sie schon First Class für ein paar Tage in sein Ferienresort auf einer asiatischen Insel einlädt. Stattdessen rechnet ER ihnen vor, was sie IHN kosten und dass sie erst einmal einkaufen gehen sollten, wenn sie etwas essen wollten. Sie, das sind die sogenannten „Normalverdiener“ (Architekten, Ärzte, Anwälte, Start-up-Unternehmer), nach denen Kathrin Röggla ihr neues Hörspiel benannt hat. ER ist mit Spekulationen auf den Finanzmärkten dieser Welt so reich geworden, dass IHN von den Einkommen seiner alten Freunde mehrere Zehnerpotenzen trennen. Statt um „mein Haus, mein Auto, meine Frau“ geht es in diesen Regionen um „meine Firma, mein Investment, mein Land“.

ER befindet sich in einer gottgleichen Position, weshalb ER, der Namenlose, im Manuskript des Hörspiels auch in Versalien gesetzt ist. Man hört IHN nur ein-, zweimal aus dem Off, wenn er über das Telefon seine Orders platziert. Den Rest des Hörspiels wird über IHN gesprochen – natürlich im Konjunktiv: ob man IHN möglicherweise verärgert habe, was gerade SEIN Wille und wie mit IHM am besten umzugehen sei. Der Konjunktiv ist der Modus, in dem der Text den Eindruck einer Mehrzeitigkeit erzeuge, sagte Kathrin Röggla im Gespräch mit Julian Doepp zu ihrem Hörspiel. Es solle der Eindruck entstehen, dass man immer hinten dran sei und man gar nicht mehr handeln könne, weil man schon vorher anders hätte handeln müssen. Was zur Folge hat, dass es so etwas wie eine Gegenwart schon gar nicht mehr gebe. Und die Zukunft sei an den Finanzmärkten auch schon verwettet worden.

Ihre Dialoge untereinander führen die Normalverdiener Karsten, Sandra, Tine, Normann, Sven, Ueli, Gebhart und Johannes im Indikativ. Was sie von IHM unterscheidet, ist unter anderem, dass sie noch über „Erwerbsbiografien“ verfügen, wohingegen es bei den „Blitzindustriellen und Investmentjunkies“ keinen Werdegang im Sinne einer Fähigkeit mehr gebe. So mosert jedenfalls Johannes, der links-hegelianische Bankrotteur, der von den anderen verspottet wird, weil er nur als „symbolisches Kapital“ bestehe. Für IHN ist er nur ein „Dienstbote der Unterhaltung“, weshalb Johannes plötzlich für ein paar Tage verschwindet – eingesperrt in einer Kammer. Natürlich ein bedauerliches Versehen.

Sollte man IHN charakterisieren, dann als skrupellos und ängstlich zugleich; misstrauisch wie Stalin in seinen letzten Jahren und versessen auf kurzfristige Erfolge und Anerkennung wie der US-Präsidentschaftskandidat Donald Trump oder der Brexit-Befürworter Boris Johnson. Wie diese agiert ER absolut verantwortungslos und hält sich dabei für vollkommen schuldunfähig. Gleichzeitig empfindet ER sich als Opfer einer ungerechten Steuergesetzgebung. Kathrin Röggla geht es nicht um eine Psychopathologie ihrer Figuren, sondern um die sprachlichen und soziologischen Strukturen, die die gegenwärtigen Verhältnisse stabilisieren sollen. Techniken der Demütigung und Einschüchterung gehören ebenso dazu wie Strategien der Durchsetzung von Interessen und ein operatives Verhältnis zu einer faktenbasierten Wahrheit, die sich „Realismus“ nennt.

Real wird es allerdings erst, als an den Stränden der Insel immer mehr Leichen angetrieben werden und die Boote derer, die nichts mehr zu verlieren haben, nicht an Land gelassen werden. Da hat ER sich schon längst aus dem Staub gemacht. Währenddessen klammern sich die Normalverdiener an die völlig unrealistische Hoffnung der „Kleine-Welt-Theorie“, dass jeder über fünf Handschläge mit einem Oligarchen verwandt sei, um seine wertlose „Erwerbsbiografie“ in eine „Oligarchen-Überlebensbiografie“ verwandeln zu können.

Unter der Regie von Leopold von Verschuer und mit der Musik von Bo Wiget agieren in dem 55-minütigen Stück Martin Engler, Leslie Malton, Verena Unbehaun, Severin von Hoensbroech, Cornelius Schwalm, Ulrich Peltzer, Heiko Scholz, Georg Scharegg und Tony de Maeyer in den Rollen der Normalverdiener. Manche Figuren bleiben etwas blass. Für eine Hörspielinszenierung ist das insofern problematisch, weil hier die Aufmerksamkeit von der Argumentationsstruktur auf die Zuordnung der Stimmen zu den Figuren ab­gelenkt wird. Doch trotz dieser Unschärfen und kleinerer dramaturgischer Ungereimtheiten ist Kathrin Röggla mit „Normalverdiener“ ein wirklich böses Stück über die Lebenslügen einer Klasse gelungen, der auf schmerzhafte Art und Weise ihre Irrelevanz und Handlungsunfähigkeit vorgeführt wird.

Jochen Meißner – Medienkorrespondenz 14/2016

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