Die drei Finalisten des 70. Hörspielpreises der Kriegsblinden 2021

In ihrer Sitzung am 18. Mai hat die fünfzehnköpfige Jury des Hörspielpreises der Kriegsblinden aus 22 Einreichungen der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten aus Deutschland, Österreich und der Schweiz ihre drei Finalisten gewählt. Die Verleihung des Preises findet am 18. August im Kölner Funkhaus des Deutschlandfunks um 16.30 Uhr online und im Radio auf dem DABplus-Kanal Dokumente und Debatten des Deutschlandradios statt.

Update 18.8.21: Gewinner der 70. Hörspielpreises der Kriegsblinden ist Thomas Köck mit der Hörspielfassung seines Theaterstücks „Atlas“.

Die Finalisten sind:

„Fünf Flure, eine Stunde“
Hörspiel in einem Take von Luise Voigt
Regie: Luise Voigt
Komposition: Milena Kipfmüller, Klaus Janek
Technische Realisierung: Thomas Rombach, Melanie Inden
Regieassistenz: Herta Steinmetz, Melanie Inden
Dramaturgie/Redaktion: Cordula Huth
Mit: Lisa Charlotte Friederich, Nele Niemeyer, Anna Sonnenschein, Philippe Ledun, Pirmin Sedlmeir sowie Arne Köhler
Produktion: HR/SWR/DLF
Ursendung: 19.01.2020, hr2 kultur, 53:35 Min.

Luise Voigt

Luise Voigt. Bild: Sebastian Bühler.

Die Begründung der Jury:

Es gibt gesellschaftlich drängende Fragen, wie die der menschlichen Würde am Ende eines langen Lebens, die uns seit Jahren unter den Nägeln brennen. Auch künstlerisch werden sie immer wieder aufgegriffen und laufen damit Gefahr, uns, das Publikum, durch Gewöhnung zu ermüden. Luise Voigt vermeidet diese Gefahr, indem sie einen interessanten Weg geht und vom Leben und Pflegen in Altersheimen mithilfe eines nüchternen Konzepts erzählt. Auf fünf Fluren verschiedener Pflegeeinrichtungen nahmen sie und einige Mitstreiter*innen am selben Tag (dem 19. Mai 2019) zur gleichen Zeit (8.00 Uhr bis 9.00 Uhr) alles auf, was sich dort ereignete.

Die fünf verschiedenen Takes wurden in einer Art O-Ton Reenactment-Collage von Schauspieler*innen nachgesprochen und fanden so einen eigenen Rhythmus und Ton. Mit dem Sound etwa der wiederkehrenden, professionellen Munterkeitsfloskeln des Personals und den kurzen Reaktionen der Alten gelingt es dem Hörspiel viel über den Pflegeberuf auszusagen. Das klug gewählte Stundenfenster spricht von der Überforderung und vom allgegenwärtigen Zeitdruck derer, die hier arbeiten, und lässt gleichzeitig die schier unendlich scheinende Leerzeit der dort Wohnenden schmerzhaft hervortreten.

Wie viele unerzählte Geschichten aus einem reichen langen Leben mögen hier unausgesprochen sein! Wie hier erzählt die Autorin auch in anderen solcher Momente der eins-zu-eins Übertragung vom O-Ton auf den nachgespielten Hörraum mehr als sie tatsächlich sagt. Denn für dichte Erinnerungen bleibt in einem so mechanischen Stundentakt nun einmal kein Platz, und um die Alten aufblühen zu lassen, würde das Berufsfeld ein anderes Zeitfenster benötigen. Dass Luise Voigt die Kritik an diesem Zustand anhand der künstlerischen Form erzählt und durch ihr Publikum ausdecken lässt, ist eine große Leistung. Mögen politische Entscheider*innen zu diesem Publikum gehören.

„Atlas“ von Thomas Köck

Regie: Heike Tauch
Komposition: Janko Hanushevsky
Technische Realisierung: Holger König, Christian Grund
Regieassistenz: Anne Osterloh
Redaktion: Steffen Moratz
Mit: Mai Duong Kieu, Dan Thy Nguyen, Stephan Grossmann, Thúy Nonnemann, Claudia Jahn
Produktion: MDR 2020
Urrstsendung: 09.11.2020, MDR KULTUR, 69:37 Min.

 

Thomas Köck

Thomas Köck. Bild: privat.

Die Begründung der Jury

Als architektonisch-skulpturales Element trägt ein Atlas schwere Lasten; in der Anatomie stützt er unseren Schädel; als Sammlung von Landkarten bietet er geografische Orientierung, und die Kulturgeschichte kennt ihn seit Aby Warburgs und Gerhard Richters Bildersammlungen als symbolischen Fundus von in sich beweglichen Wirklichkeitsschichten. Thomas Köcks Hörspiel „Atlas“ trägt all diese Aspekte des titelgebenden Begriffs in sich. Es geht um konkrete, historische und psychische Lasten, die sich mit geopolitischen Fragen verschränken. Vor allem aber besteht es aus vielen Wirklichkeitsfacetten, die eine engagierte Zeitgenoss*in seit Jahrzehnten beschäftigen mag.

Der Autor erzählt von Arbeitsmigrant*innen der 1980er Jahre, vom „Mauerfall“ und den damit verbundenen psychosozialen Folgen; dann auch von den sogenannten „Boat People“, die nach dem Vietnamkrieg mit schlecht ausgerüsteten Booten aus dem Heimatland flohen und in Ost- und Westdeutschland als „Vertragsarbeiter“, respektive „Gastarbeiter“ Aufnahme fanden. Köcks Protagonistin macht sich auf die Suche nach ihrem Ursprung in Vietnam und dem Grund dieser Fluchtsituation. Auf der Folie ihrer Familiengeschichte wird immer auch an nationale Geschichte erinnert – wie etwa, wenn Köck ein Treffen von vietnamesischen Funktionären mit ihren DDR-Parteikollegen nachimaginiert. Und immer schwingt als Unterton der Erzählung das Bewusstsein von heutiger und längst vergangener Migrationsbewegungen mit.

Gekonnt nuanciert der Autor zahlreiche gesellschaftliche Anspielungen und sein Stoff hätte das Zeug zu mehreren Melodramen. Doch Köck bleibt in dem von ihm abgesteckten konzeptionellen Rahmen, einer Reise, Jahrzehnte nach der erzwungenen Flucht, die auch als Reise in unser aller Geschichte der letzten vierzig Jahre gehört werden kann. Weil er seinen Figuren dabei sehr nahe kommt und sie von heute aus ohne ideologisches Korsett auf die Welt schauen lässt, betrachten auch wir sie aus einer frischen Perspektive. Das ist immer wieder notwendig. Denn, in den Worten des Autors: „Gäbe es eine Logik in der Geschichte, wir würden sie uns nicht dauernd erzählen müssen“.

 

„Einsam stirbt öfter“
Ein Requiem von Gesche Piening

Regie: Gesche Piening
Musik: Maasl Maier, Marja Bruchard
Technische Realisierung: Winfried Meßmer, Michael Krogmann, Daniela Röder
Redaktion:
Katja Huber
Regieassistenz: Stefanie Ramb
Redaktion: Katja Huber
Mit: Stephan Bissmeier, Sylvana Krappatsch, Katja Bürkle, Raphaela Möst, Harry Täschner, Uta Rachov, Georgia Stahl, Peter Fricke, Johannes Silberschneider, Georgia Stahl, Uta Rachov, Xenia Tiling, Ercan Karacayli, Mareike Beykirch, Stephan Zinner, Christopher Mann, Friedrich Schloffer, Jeannette Kummer, Wolfgang Petters, Ulrich Zentner
Produktion: BR 2020
Ursendung: 12.06.2020, Bayern 2, 52:58 Min.

Gesche Piening

Gesche Piening. Bild: Marcus Gruber.

Die Begründung der Jury

In den letzten fünfzehn Monaten wurde öfter darüber geklagt, dass auch Begräbnisse unter Coronabedingungen stattzufinden hatten: Der Familienfestcharakter wurde vermisst, der einem endgültigen Abschied erst die tröstliche Würde verleiht. Dass es Menschen gibt, die ohne jegliches soziales Umfeld aus dem Leben scheiden, wissen wir natürlich. Doch „Einsam stirbt öfter“ verwandelt dieses theoretische Wissen in Erfahrung.

Unmittelbar und doch sehr leise rückt die Autorin das Schicksal einsam Verstorbener in den Fokus. Sie greift dabei auf Recherchen für ein Feature zurück, das sie 2019 für den Bayerischen Rundfunk schrieb. Doch nun bettet Piening ihre eindringlichen Fragen in einen Erzählraum ein. Wie konnte es zu einem solchen Ende kommen? Gab es keine Familie? Keine Bekannten?

Stilistisch arbeitet die Autorin, die auch Regie führte, mit einem reichen Formenrepertoire, das aus fiktionalen, dokumentarischen, lyrischen und musikalischen Mitteln besteht. Jede Szene hat ihren speziellen Rhythmus, ihre eigene Formensprache und lebt in ihrem eigenen akustischen Raum. Weder inszeniert noch arrangiert Gesche Piening ihr O-Tonmaterial, sie verdichtet es. Und gerade darin besteht ihre Kunst im Umgang mit dem Stoff: Es wird nichts erfunden aber die Wirklichkeit gewinnt an Tiefe und damit an lange nachklingender Bedeutung. So wird dieses Hörspiel auch zum künstlerischen Plädoyer gegen die Ächtung der Einsamkeit, einem Zustand, unter dem Millionen leiden – sofern er nicht selbstgewählt und zeitlich begrenzt ist.

Der „Hörspielpreis der Kriegsblinden – Preis für Radiokunst“ wird seit 1952 jährlich an ein für einen deutschsprachigen Sender konzipiertes Original-Hörspiel verliehen, das in herausragender Weise die Möglichkeiten der Kunstform realisiert und erweitert. Der Preis wird von der Film- um Medienstiftung NRW getragen. Im vergangenen Jahr übernahm der Deutsche Blinden- und Sehbehinderten Verband (DBSV) die Mitträgerschaft vom Bund der Kriegsblinden (BDK), der den Preis 1951 ins Leben gerufen hatte.

Die Jury des 70. Hörspielpreises der Kriegsblinden

Blinde und sehbehinderte Jurymitglieder: Paul Baumgartner, Joachim Günzel, Hans-Dieter Hain, Nina Odenius, Dietrich Plückhahn, Siegfried Saerberg, Dörte Severin
Jurymitglieder aus dem Kunst- und Kulturbereich: Gaby Hartel (Kulturwissenschaftlerin, Vorsitzende der Jury), Thomas Irmer (Freier Journalist, u.a. Theater der Zeit), Eva-Maria Lenz (Freie Journalistin, u.a. FAZ, epd), Doris Plöschberger (Suhrkamp Verlag), Diemut Roether (Journalistin, epd medien), Hans-Ulrich Wagner (Universität Hamburg, Hans Bredow-Institut), Isabel Zürcher (Kritikerin, Lektorin und Publizistin), Jenni Zylka (Journalistin, Autorin und Moderatorin)

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