Auf dem schmalen Grat der Ambivalenzen

Jan Georg Schütte: Mutter und Sohn

NDR Info, So 03.05.2015, 21.05 bis 21.55 Uhr / SWR 2, So 10.05.2015, 18.20 bis 19.10 Uhr

Hörspiele live vor Publikum aufzuführen, hat eine gewisse Tradition bei den ARD-Hörspieltagen, die im Karlsruher Zentrum für Kunst und Medientechnologie (ZKM) stattfinden: Alljährlich wird das Kinder-Orchesterhörspiel zeitgleich von fast allen ARD-Anstalten übertragen und für die Erwachsenen wurden in den letzten Jahren Stücke von Frieder Butzmann, Walter Filz und Felix Kubin aufgeführt. Der bekennende Hörspielfan Bastian Pastewka feierte die Premiere seiner liebevollen Autopsie des Durbridge-Krimis „Paul Temple und der Fall Gregory“ ebenfalls im ZKM.

Jan Georg Schütte, der 2011 in Karlsruhe mit „Altersglühen – Speed Dating für Senioren“ den Hörspielpreis der ARD gewonnen hatte, stand am 6. November 2014 zusammen mit Hildegard Schmahl auf der Bühne des Medientheaters im ZKM. Als „Mutter und Sohn“, so der Titel des Stücks, improvisierten sich die beiden durch den Abend. Denn fest standen nur das Setting und der Plot: Der Sohn, mit Ende 40 ein erfolgreicher Komponist von Musik für die Werbung, lädt seine Mutter, eine altlinke Aktivistin, Mitte 70, zum Essen ein. Er tischt ein schweineteures Steak vom japanischen Kobe-Rind auf, obwohl er weiß, dass Mutter kein Fleisch isst. Sie kann mit ihrer Verachtung für den opulenten Lebensstil ihres Sohnes kaum hinter dem Berg halten. Kurzum, die Voraussetzungen für ein konfliktreiches Psycho- und Sozialdrama sind ebenso gegeben wie die für ein hochkomisches Aufeinandertreffen unterschiedlicher Lebensstile.

Es ist beides geworden. Schütte, zugleich Autor, Regisseur und improvisierender Schauspieler (in der Rolle des Sohnes) gibt hingebungsvoll den arroganten Werbefuzzi, als ein ziemliches Arschloch und armes Würstchen zugleich. Von seiner Mutter will der Sohn die Anerkennung, die ihm seiner Meinung nach zusteht. Natürlich versteht man seine Rebellion gegen das nervige Immer-auf-der-richtigen-Seite-Stehen seiner Mutter. Und natürlich versteht man ebenso die Empörung der Mutter angesichts der offenen Protzerei ihres Sohnes, während bei ihr zu Hause im Hamburger Stadtteil Wilhelmsburg die Leute von dem Geld, was das Kinderjäckchen ihres Enkels gekostet hat, mehr als einen Monat leben müssen. Schütte balanciert seine Figuren auf dem schmalen Grat der Ambivalenzen. So richtig gut kommen beide nicht weg, aber Schütte verrät sie nicht – weder um der Pointen noch um einer Botschaft willen.

Denn natürlich geht es um mehr als um Kabbeleien zwischen Mutter und Sohn. Es geht um den Tod, und zwar nicht den der Mutter, sondern um den des Sohnes. Er ist jetzt etwa in dem Alter, in dem vor 20 Jahren sein Vater gestorben war, und erst vor kurzem hat er einen Herzinfarkt überlebt. Die Konfrontation mit der Endlichkeit des Lebens trifft ihn also nicht ganz unvorbereitet, aber doch mit einiger Wucht. Was sollte aus seinem zweijährigen Sohn werden? Den würde er dann doch eher seiner Mutter überlassen als seiner Frau, die lieber das Partygirl gibt.

Die als „Hörspiel nach einer Live-Performance“ gesendete Koproduktion von NDR und SWR (Regie: Wolfgang Seesko und Jan Georg Schütte) ist mit rund 50 Minuten gefühlt nur halb so lang wie die Aufführung in Karlsruhe. Leider sind für die Radiofassung einige schöne Pointen zum ebenso aufwendigen wie trivialen Werk des Werbekomponisten weggefallen und damit einige Aspekte seines Charakters. Dafür ist eine zweite Erzählebene hinzugekommen, nämlich das Making-of der Aufführung, die das Hörspiel rahmt. Netto bleiben von der Live-Performance nur etwa 30 Minuten übrig, wenn man den ausführlichen Vorspann mit den ersten Vorbesprechungen, den Proben und der Technik und den kurzen Nachspann mit der entspannten Erlösung nach der erfolgreichen Aufführung abzieht.

Der peinlich-kitschige Song, den der Sohn seiner Mutter widmet, war in Karlsruhe der Schlusspunkt des Stücks und beim dortigen fachkundigen Publikum für den Ausbruch kollektiven Fremdschämens verantwortlich. In der Hörspielfassung wird der Song schon früh eingeführt und nimmt ihm so den Stachel. Denn das eigentlich Traurige war, dass es nach 30 Jahren Werbejingle-Komponiererei für den Sohn offenbar kein wahres Gefühl im falschen gibt – geschweige denn, dass er die Dialektik dieser Frage verstünde. Doch statt des adornitischen Verdikts macht Schütte lieber die Ambivalenzen stark, die der Grundsympathie für seine Figuren entspringt. Das macht „Mutter und Sohn“ zu einem gelungenen Hörspiel in der langen Reihe der ‚Rentnerhörspiele‘, die die ARD-Hörfunksender in den letzten Jahren produziert haben; und dennoch wünschte man sich zum Vergleich die ungeschnittene Live-Aufführung inklusive aller Längen und der gestrichenen Pointen als Download im Netz.

Jochen Meißner – Medienkorrespondenz 10/2015

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