Zweigleisiges Hören
Die 12. ARD-Hörspieltage 2015 in Karlsruhe
Bei nicht wenigen der zwölf Stücke im Wettbewerb der ARD-Hörspieltage 2015, die vom 11. bis 15. November im Karlsruher Zentrum für Kunst und Medientechnologie (ZKM) stattfanden, konnte man einen brutal-komischen Subtext mit kulinarischen Untertönen hören. Der Laut, „den die Säu machen, wenn man sie kirzet oder würget“, ist das „i“, jedenfalls wenn man dem frühneuzeitlichen Grammatiker Valentinus Ickelsamer und seinen Gewährsleuten vom Liquid Penguin Ensemble in ihrem mehrfach ausgezeichneten Hörspiel „Ickelsamers Alphabet“ (SR/Deutschlandradio Kultur) glauben will – und denen kann man bekanntlich alles glauben.
Blendet man dann über zum SWR-Hörspiel „Die lächerliche Finsternis“ von Wolfram Lotz (vgl. MK 5/15), wird man mit einer barbarischen Sitte von Eingeborenen konfrontiert, die einem getöteten Flussschwein die Därme herausreißen, es anschließend zerhacken und „wie zum Hohn“ in die eigenen Därme füllen. Diese „Schläuche“ würden dann „über dem Feuer angebrannt und verschlungen“. Die Eingeborenen seien – so geht das Gerücht – Tierfresser. Ist man aus der Wildnis zurück in die zivilisierte Schweiz geraten, stellt man mit Entsetzen fest, wie sich die Gewalt perpetuiert, wenn man das Geflügel auf eine Weise tranchiert, wie es der Schweizer Autor Michael Fehr in seinem dreiteiligen Hörspiel „Babel und die Studentin und ein Rebhuhn auseinandernehmen“ (SRF) beschreibt.
Popkulturelle Rahmungen
Doch das waren beileibe nicht die einzigen Gewalttätigkeiten, die in den in Karlsruhe zu hörenden Produktionen im popkulturellen Gewand daherkamen. Schon das Auftaktstück der diesjährigen Hörspieltage, Oliver Sturms „King of Kings“ – Teil des großangelegten Bibelprojekts des Hessischen Rundfunks (HR) –, fasste den früheren libyschen Diktator Muammar al-Gaddafi als Popstar auf, der seine eigenen Lyrics verfasste und (s)eine Höllenfahrt durch ein Abwasserrohr imaginierte. Als Gegenfigur fungierte der alttestamentarische König Saul, der um das Jahr 1000 v. Chr. regierte und als erster König Israels gilt.
In Sibylle Bergs vom MDR produzierten Hörspiel „Und jetzt: Die Welt!“ (vgl. MK 19/15) schmorte Paul, der Vater der Erzählerin, gefesselt und geknebelt im Keller, weil die Tochter ihre Mutter vom Patriarchat befreien wollte. Schon als Teil einer Mädchenbande hatte die Tochter ein ziemlich unverkrampftes Verhältnis zur Gewalt – bis sie die Straße mit der Yogamatte tauschte. Adoleszenter Gewalt als Pose unter Berliner Hipstern konnte man in Michel Decars Hörspieldebüt „Jonas Jagow“ (Deutschlandradio Kultur) zuhören. Ähnlich prekär, aber weniger hip ging es zu im dritten Teil von Ingrid Marschangs Trilogie „Geschichten aus der großdeutschen Metropulle – Einigkeit und Recht und Freiheit“ (NDR).
Eine andere popkulturelle Rahmung für die Schilderung gewalttätiger Verhältnisse wählte die Theaterperformance-Gruppe andcompany&Co. für ihr Flüchtlingsstück „Orpheus in der Oberwelt“ (WDR), indem sie es als kulinarische (Schlepper-)Oper inszenierte (vgl. MK 10/15). Da wird wenigstens schön gestorben, wenn das Haupt des Orpheus singend den thrakischen Fluss Evros heruntertreibt, der heute eine schwer bewachte Außengrenze Europas bildet.
„Papa was a Rolling Stone“
Dass eine Revolution eher unblutig verlaufen kann, wenn der abzusetzende König eigentlich lieber ein „Millibauer“ (das heißt: ein Milchbauer) gewesen wäre, konnte man in Andreas Ammers Komödie „The King is gone – Des Bayernkönigs Revolutionstage“ (BR) hören, ein Stück über Ludwig III., das während der Novemberrevolution anno 1918 spielt. Der Text basiert auf einem zeitgenössischen Kolportage-Heftchen von Josef Benno Sailer. Man vergegenwärtige sich hierfür vor seinem inneren Ohr die Hookline des Soul-Klassikers „Papa was a Rolling Stone“ mit einer Tuba: „Da-dap, dada da dap…“, darüber die flirrenden Streicher, die synkopischen Handclaps und die die Zeilen „It was the 9th of November / that day I always remember / cause that was the day my country died“. So adressiert man das Erinnerungsvermögen des Hörers und lässt in der Coverversion der „Hochzeitskapelle“, einem Nebenprojekt der Brüder Markus und Micha Acher von The Notwist, immer die Originalversion der Temptations mitschwingen: „Da-dap, dada da dap.“ Für sein Stück erhielt Andreas Ammer in Karlsruhe den mit 2500 Euro dotierten ARD Online Award, der von den Hörern in einer Internet-Abstimmung ermittelt wurde.
Einen wahren Höhepunkt in der Kunst des zweigleisigen Hörens lieferte die Schauspielerin und Sängerin Marina Frenk in dem schon erwähnten Stück „Und jetzt: Die Welt!“ von Sibylle Berg unter der Regie von Stefan Kanis. Frenk verzichtete in ihrer Interpretation der Liebeslieder von Udo Jürgens, Funny van Dannen und Rio Reiser auf jede Ironie und überließ die komischen Bosheiten und Pointen gänzlich dem Text. Ihre Stimme verknüpfte den Jargon der Eigentlichkeit des Schlagers mit dem Jargon der Uneigentlichkeit des Textes, während Sibylle Berg in eben diesem Text den Zwang zum uneigentlichen (soll heißen: ironisch-kritischen) Sprechen verspottet. Klingt kompliziert, funktioniert aber so – und ein Hörvergnügen sondergleichen.
Eine ähnliche Operation mit doppeltem Boden konnte man auch in Leonhard Koppelmanns Inszenierung des Hörspiels „Die lächerliche Finsternis“ beobachten, in der der ständige Wechsel der Register von Ironie und Ernsthaftigkeit, Selbstreferenz und Fremdreferenz Programm sind. Das Stück von Wolfram Lotz war übrigens als Hörspiel konzipiert, bevor es dann auf den Theaterbühnen Erfolge feierte.
Die Metaebene als Sicherheitsnetz
Ohne im Vorfeld die Sicherheitsnetze der Metaebenen aufzuspannen, hielt der Schweizer Autor und Spoken-Word-Künstler Michael Fehr in seinen drei Minidramen „Babel und die Studentin und ein Rebhuhn auseinandernehmen“ ebenso komisch wie unironisch auf sein Publikum zu. Im ersten Teil fliegt den Erbauern des Turms zu Babel ein Backstein nach dem anderen um die Ohren, in zweiten imaginiert eine wilde Studentin ihre unausweichliche Zukunft der Verspießerung und im dritten Teil wachsen aus den Innereien des Rebhuhns neue Rebhühner, die man dann wieder schlachten und auseinandernehmen kann. Als Folien für die drei Texte könnte man Werke von Daniil Charms, Elfriede Jelinek und Harry Mathews anführen, sie funktionieren aber auch prima ohne diese Bezüge. Der Autor Michael Fehr leidet unter einer degenerativen Augenkrankheit, die dazu führt, dass er seine Texte einem Computerprogramm diktieren muss – was man ihnen in Rhythmik und Sound auch anhört. Schon wegen dieses Stücks hat sich die Erweiterung der ARD-Hörspieltage um die öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten aus der Schweiz (SRF) und Österreich (ORF) gelohnt.
Die gesamte Jury wusste mit Fehrs Stück nichts anzufangen, wie man sich überhaupt bei fast allen Stücken in Ablehnung oder Zustimmung schnell auf einen Konsens eingroovte. Keiner schien die Rolle des Advocatus diaboli übernehmen zu wollen. Der Peymann-Dramaturg Hermann Beil präsidierte der Jury eher moderierend, der als weitere Mitglieder Ursula Krechel, Diemut Roether, Frank Olbert und Jan Linders angehörten.
Wie aus der Zeit gefallen kam die inszenierte Lesung der Tagebücher eines empfindsamen Sympathisanten der französischen Revolution daher: „Die Geschichte meines Lebens – Die Tagebücher Ferdinand Benekes, 1. Teil: Die Jahre 1792 bis 1994“. Charlotte Drews-Bernstein hatte diese Aufzeichnungen in einer Produktion von Radio Bremen für den Funk bearbeitet. Auch Elisa Minths autobiografisch grundiertes Hörspiel „Zu nahe“ (ORF) über die divergierenden Lebenswege der Zwillingsschwestern Friedhelmine und Viktoria spielte mit der Innenwelt seiner Figuren.
Sehr einig war sich die Jury bei der Vergabe des mit 5000 Euro dotierten Hörspielpreises der ARD: Er ging an Ulrike Müllers halbdokumentarische RBB-Produktion „Das Projekt bin ich“ (vgl. FK 30-31/14). Das Stück handelt von der Subventionierung öffentlich finanzierter Kultur durch ihre Produzenten. Hier waren es vier Schauspielerinnen und ein Schauspieler, die mit 0-Euro-Gagen, vorläufigem Gehaltsverzicht und wiederkehrendem Hartz-IV-Bezug das System am Laufen halten und berichten, was das für ihren Seelenhaushalt bedeutet.
Die sehr kleine Hörspielfamilie
Wie man mit einer Fünf-Liter-Dose Erbsensuppe und ein paar Mundgeräuschen den Vorgang des Erbrechens akustisch darstellen kann, und zwar much-bigger-than-life, hatte man in dem satirischen Live-Hörspiel „Schalltot oder lebendig“ von Hermann Bohlen mit Mira Partecke, Gustav Peter Wöhler, Matthias Meyer und dem Autor miterleben können. Und so war die entspannte Tonalität für die anschließende Podiumsdiskussion, die die Frage „Was leistet Hörspielregie?“ beantworten sollte, schon gesetzt.
Leider blieb es dann aber bei eher oberflächlichen Fragen und Antworten. Die Probleme, die freie Regisseure bei den öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten – den mit Abstand größten Auftraggebern für Hörspielproduktionen – haben, wurden weitgehend ausgespart. Es entstand der Eindruck, dass trotz aller Sparzwänge und Zentralisierungen von Programmen („Radio-Tatort“, „ARD-Radiofeature“, Radiofestival der ARD im Sommer) alles in Ordnung sei, der Beruf des Hörspielregisseurs sowieso der beste der Welt und also alle eine große Familie seien. Dass diese große Familie, den Nachteil hat, eine sehr kleine Familie zu sein, und dass man, wenn man das Maul zu sehr aufreißt, eine gewisse Zeit lang einfach keine Aufträge mehr bekommt, darüber redet man natürlich nicht so gerne auf einer öffentlichen Veranstaltung des Hauptauftraggebers.
Jochen Meißner – Medienkorrespondenz 25/2015
Schreibe einen Kommentar