Zeitlose Avantgarde

Aleksandr Vvedenskij: Wann Wo oder Eine gewisse Anzahl Gespräche

HR 2 Kultur Mi 31.10. 21.30 bis 22.10 Uhr

Oliver Sturms Bearbeitung und Inszenierung von Aleksandr Vvedenskijs dramatischem Text „Wann Wo oder Eine gewisse Anzahl Gespräche“ ist ein seltener Glücksfall. Hier nimmt das Hörspiel endlich wieder einmal seine Rolle als Entdecker weitgehend unbekannter, kaum je aufgeführter Texte wahr. Nicht selten hofft man ja in den Hörspielredaktionen, durch Theaterumsetzungen für das Radio ein wenig vom Ruhm bereits gefeierter Inszenierungen zu erhaschen. Grundlage dieser Koproduktion von Hessischem Rundfunk (HR) und Deutschlandfunk (DLF) ist die 1987 beim Berliner Verlag „Friedenauer Presse“ erschienene Übersetzung durch den großartigen Peter Urban. Ihm ist es zu verdanken, dass dem deutschsprachigen Publikum überhaupt Texte der Leningrader Avantgarde-Gruppe Oberiu zugänglich sind, zu der Aleksandr Vvedenskij (1904 bis 1941) wie auch der bekanntere Daniil Charms (1905 bis 1942) gehörten.

Jede Szene des Stücks ist als Gespräch betitelt. Das „Gespräch über das Irrenhaus“ macht den Anfang. Motorengeräusche untermalen die Autofahrt, während der die drei durchnummerierten, namenlos bleibenden Figuren miteinander Vermutungen bzw. Gewissheiten über das Irrenhaus austauschen, sie wollen es besichtigen. Angekommen, übt der Direktor der Anstalt nach einer scheinbar freundlichen Begrüßung sofort seine Befehlsgewalt aus: „Legt euch nieder!“ Daraufhin ist der Erzähler mit einer scheinbaren Umgebungsbeschreibung zu hören: „Über den Zaun schauen Nichtigkeiten. Der Abend geht vorüber. Keinerlei Veränderungen gehen vor. Achte die Armut der Sprache. Achte die bettelarmen Gedanken.“

Im Lauf des Dialogs wird die Zweideutigkeit zwischen „etwas/jmd. achten“ und „auf etwas achten“ noch verstärkt. Befehle selbst sind zu achten, wie auch darauf zu achten ist, deren enge Grenzen nicht zu überschreiten. Es ist eine beklemmende Atmosphäre, die dem Hörer vermittelt wird. Angesichts der Entstehungszeit von „Eine gewisse Anzahl Gespräche“ (1937) ist dies kaum verwunderlich. Zur Hochzeit der stalinistischen Säuberungen war eine systemstabilisierende Literatur gefragt. Ganz in diesem Sinne sagt der Erste im „Gespräch über das Irrenhaus“, als ob er ein entklausuliertes Stalin-Postulat referierte: „Schreibt sauber. Schreibt langweilig. Schreibt fett. Schreibt tönend.“

Dem gegenüber steht die karge Sprache Vvedenskijs, die ungeahnt weite Assoziationsräume eröffnet. Die Handlungsräume der Figuren sind durchgängig eingeschränkt. Einmal sind die Drei in einem Raum eingeschlossen und rennen in der Enge, um sich Bewegung zu verschaffen. Die einzige wirklich freie und selbstbestimmte Handlung scheint ihnen der Selbstmord zu sein. Der gelegentlich durchschimmernde Humor – dunkler als schwarz – entwickelt sich in dem rund 40-minütigen Stück vor allem aus der Hoffnungslosigkeit.

Eine kühle, unterspielte und gleichzeitig berührend traumwandlerische Sprechweise zeichnet die drei Charaktere aus (Jens Harzer, Sven Lehmann und Wolfram Koch). Noch distanzierter als diese steht nur der Erzähler (Graham F. Valentine) den Szenen gegenüber. In Vvedenskijs Original ist eine Erzählinstanz zum Teil in den Fließtext eingebettet und ersetzt Regieanweisungen. Es muss kein Erzähler dazuerfunden werden – Indiz für die Radioaffinität des Textes. Neben atmosphärisch düsteren Fragmenten des Alexandrow-Ensembles setzt Komponist Bernd Leukert bei der Klanggestaltung ganz auf die Geräusche des Alltags und auf historische O-Töne. Illustrierendes Standardmaterial bekommt hier eine weitere Dimension: Es unterstreicht durch seine Realitätsfixierung die Absurdität der wechselnden Szenen.

Die Oberiuten Charms und Vvedenskij konnten zu ihren Lebzeiten nur Kinderbücher veröffentlichen, denn sie wurden in der UdSSR als Staatsfeinde gesehen. Sie waren jedoch nicht allein Opfer des Stalinismus. „Charms verhungerte 1942 in einem Gefängnis des von den Nazi-Truppen eingekesselten Leningrad, Vvedenskij kam 1941, aus Charkow vor der heranrückenden Wehrmacht evakuiert, auf einem Gefangenentransport um“, so schrieb es Benedikt Erenz am 22. Juli 1988 in der „Zeit“. Zur damaligen Epoche meinte Peter Urban gegenüber der „Badischen Zeitung“ in der Ausgabe vom 19. Januar 2012: „Über die Verbrechen der Deutschen in Leningrad will man bis heute nichts wissen. Im vergangenen September war der 70. Jahrestag des Beginns der Blockade – keine einzige Zeitung in Deutschland hat sich erinnert.“ Vielleicht ist die doppelte Opferrolle der beiden Oberiuten einer der Gründe, warum sich ihre Werke von keiner Ideologie vereinnahmen lassen. Oliver Sturm jedenfalls ist eine kongeniale Inszenierung gelungen, die wohl jeder Freidenker liebgewinnen wird. Nach der Ausstrahlung am 31. Oktober bei HR 2 Kultur ist das Stück am 13. November beim Deutschlandfunk zu hören (20.10 Uhr).

Rafik Will – Funkkorrespondenz 46/2012

Update: Das Hörspiel wurde bei den 8. ARD-Hörspieltagen 2012 mit dem mit EUR  2.500 dotierten Publikumspreis „ARD Online Award“ ausgezeichnet und bekam eine lobende Erwähnung der Fachjury.

Oliver Sturm bedankte sich mit folgenden Worten:

„Ich freue mich besonders, dass ein Stück, das keine Tagesaktualität hat und von der Komposition und der Bauweise lebt, also ganz in der Kunst verbleibt und reine Kunst ist, den Publikumspreis bekommt. Dass das von Hörern geschätzt wird, ist toll. Und das würde ich den Verantwortlichen der Rundfunkanstalten gerne als Appell mitgeben: Dass Kunst gewünscht ist. Und dass sie auch bitte erhalten bleibt.“

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