Wahl-Watching und Kipppunkte
Rund um die Landtagswahl in Thüringen am 1. September 2024 hat Schorsch Kamerun auf dem Weimarer Theaterplatz einen Plastik-Pavillon aufgebaut und mit Leuten geredet. Daraus ist das Hörspiel „Bevor wir kippen“ entstanden.
Schorsch Kamerun: Bevor wir kippen
DLF, Sa, 22.03.2025, 20.05 bis 21.35 Uhr
DLF Kultur, So, 23.03.2025, 18.30 bis 20.00 Uhr
„Wir sind keine Blase, wir sind die Mehrheit“ ist das Fazit, das Schorsch Kamerun nach zwölf Tagen auf dem Weimarer Theaterplatz zieht. In den beiden Woche vor und nach der Landtagswahl in Thüringen hat er eine mit durchsichtigem Kunststoff bezogene Halbkugel bespielt. Dabei hat er mit Weimarer Bürgerinnen und Bürgern gesprochen und zwölf Songs geschrieben, die in modifizierter Form die Grundlage für das 86-minütige Hörspiel „Bevor wir kippen“ bilden. „Wahl Watching – ein gesungenes Tagebuch zur Landtagswahl“ ist der Titel der Aktion, die in Zusammenarbeit mit dem Kunstfest Weimar entstanden und auf der Website von ARD Kultur abrufbar ist.
„Wir befragen Bürger:innen vor Ort zu Begriffen, die umkämpft sind und beschreiben sie mit unseren Mitteln – vielleicht zum letzten Mal“, leitete Schorsch Kamerun sein gesungenes Videotagebuch zur Landtagswahl ein, bei der die rechtsextreme Alternative für Deutschland (AfD) mit deutlichem Vorsprung gewonnen hatte. Die Leitfrage an die Weimarer Bürgerinnen und Bürger lautete: Was kann abgeschafft werden? Neben den erwartbaren Antworten wie „Krieg“, „Gewalt“, „alles Schlechte in der Welt“ und „Ungerechtigkeit“ wurde überraschend häufig „Ungleichheit“ genannt. AfD-Feindbilder wie „Lastenfahrräder“ oder die „GEZ“ tauchten selten auf. Vielleicht liegt das daran, dass Weimar II einer der vier von 44 Wahlbezirken war, in denen die Linke gewonnen hatte.
Man befand sich also im Auge des Hurrikans oder in jener sprichwörtlichen (Kultur-)“Bubble“, um die herum „närrische Tänze“ wirbelten, wie es die Schauspielerin Sandra Hüller in einem dichten Eingangsstatement beschreibt: „Ein Dichter fänd nur Spott für dieses sinnlose, kreisende Tun […] Jeder Schritt tränkt das Parkett, die Erde, mit noch mehr Blut […] Vernichtendes Wuchern, vernichtendes Hauen und Stechen. Vernunft scheint hier fort, Zukunft scheint hier fern. Nur mager der Gewinn für den Einzelnen, öde Wiederholungen. Umarmen, abstoßen, aufeinander schlagen, fortdauernder Loop. Männer sind das. Gefolgsleute rufen sie sich, oft angeführt von bizarren Regenten, von Clowns, denen hinterherzulaufen völlig unverständlich erscheint.“
An Abstraktionen laben
Die Begriffe, die Tag für Tag diskutiert wurden, reichten vom „Experiment“, das natürlich an Goethes 275. Geburtstag thematisiert wurde, über „Ver-Brauchtum“ bis hin zu „Ambiguität“ und „Zeckenpunk“. Alles durchaus disparate Komplexe, die aber im Hörspiel durch den Sprechgesang Schorsch Kameruns, repetitive elektronische Loops und ein paar dräuende Klavierakzente zusammengehalten werden. Ab und zu wird auch gereimt: „Ich will in freien Formen baden, mich an Abstraktionen laben“ – man ist schließlich in der Stadt Goethes.
Anders aber als in Schorsch Kameruns 2007 mit dem Hörspielpreis der Kriegsblinden ausgezeichneten Stück „Eine Menschenbild, das in seiner Summe Null ergibt“, fehlt hier die aggressive Anmutung. Wer sich kurz vor dem Kipppunkt befindet, bewegt sich lieber vorsichtig. Trotzdem bekommt – natürlich mal wieder durchaus zurecht – die Unterhaltungsindustrie ihr Fett weg, wenn ein Gameshow-Setting beschrieben wird, in dem Sozialdarwinismus mit dem Versprechen eingeübt wird: „Wenn du vorne liegst, hast du dein Leben lang passives Einkommen.“ Für „5 Millionen Vorteil“ lässt man sich gerne zur Zombiehorde machen, die auffällige Inhalte produziert.
Weil aber „naturgemäß“ einige wenige gewinnen, wenn ganz viele verlieren und das Rückwärtsdenkertum vom Sturm, der vom Paradiese her weht, vorwärtsgetrieben wird, hilft auch das Mindset, dass alle nur Gewinner sein wollen müssen, nicht weiter. „Diese Lüge ist keine Lüge“, heißt denn auch einer der Songs von Kamerun, in dem die Kategorie der Wahrheit nur eine Unterkategorie der Macht ist.
Den Gleichgewichtssinn trainieren
Um ästhetisch wie politisch den unumkehrbaren Kipppunkt nicht zu überschreiten, hilft es nur, den Gleichgewichtssinn zu trainieren und sich auszubalancieren. Dafür sorgen in Schorsch Kameruns Hörspiel einige Experten (Sui Sofie Heinz, Johannes K. Hildebrandt, Lukas Holfeld, Fritzi Kempter, Aliya Sayfart, Nadja Sühnel, Anastasia Turcu, Arne Vogelsang, Jens-Christian Wagner, Florence von der Weth und Yaneq aus Kreuzberg), die ihre Geschichten erzählen oder ihr Wissen teilen.
Es ist die wechselseitige Anerkennung, für die sich die merkwürdige Formel des „Gesehenwerdens“ eingebürgert hat, die als Balancierstange dienen kann. Sandra Hüller freut sich am Ende des Stücks über alles, was sie nicht sofort versteht und schließt mit den Sätzen: „Die Texte aber, die uns brüderlich meinen, werden wir jederzeit erkennen. Die Töne, die an unsere Gleichheit gerichtet sind, werden wir immer heraushören aus dem Gezeter der Verkäufer.“ Bevor es aber zu salbungsvoll wird, folgt noch der hilflose Versuch, die Hymne „Thüringen, holdes Land, wo meine Wiege stand“ anzustimmen. Soviel Punk muss sein.
Jochen Meißner – KNA Mediendienst 26.03.2025
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