Sprache und Kontrolle
Die drei Finalisten des 62. Hörspielpreises der Kriegsblinden
In seinem Hörspiel „Dederisch für alle“ (MDR 2009) beschreibt der Kommunikationspsychologe, Sachbuch- und Hörspielautor Frank Naumann die angeblichen Bestrebungen der DDR-Führung, eine neue Amtssprache zu schaffen. Mit einer eigenen Sprache hätte man sich den Ärger mit der Westpresse und überhaupt die ganze Wiedervereinigung und den Katzenjammer danach ersparen können. Mit diesem Gedankengang beginnt Naumanns ebenso präzise gebaute wie liebevoll produzierte „akustische Rekonstruktion“ der Arbeit des fiktiven „Instituts für kreative Linguistik“ der DDR. Auch ohne Wittgenstein gelesen zu haben, wusste das Politbüro, dass die Grenzen der Sprache die Grenzen der Welt bedeuten.
Mit seinem neuen Stück „Die verbotene Welt“ gehört Frank Naumann nun zu den drei Nominierten für den 62. Hörspielpreis der Kriegsblinden 2013. Die beiden anderen nominierten Stücke sind „Oops, wrong Planet!“ von Gesine Schmidt und „Menschliches Versagen“ von Lukas Holliger. Die Nominierungen der Jury, deren Sitzung unter dem Vorsitz von Anna Dünnebier im April in Berlin stattfand, wurden am 28. Mai von der Film- und Medienstiftung NRW (Düsseldorf) bekannt gegeben, die zusammen mit dem Bund der Kriegsblinden Deutschlands (BKD) den renommierten Wettbewerb ausrichtet. In diesem Jahr waren von den öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten aus Deutschland, Österreich und der Schweiz insgesamt 24 Stücke eingereicht worden.
Sollte man die drei sehr unterschiedlichen Finalisten des 62. Hörspielpreises der Kriegsblinden unter ein Label fassen, dann wäre es „Sprache und Kontrolle“. In Frank Naumanns unter die Top 3 gewähltem Hörspiel „Die verbotene Welt“ – einer Koproduktion des Saarländischen Rundfunks (SR) mit dem Rundfunk Berlin-Brandenburg (RBB) unter der Regie von Steffen Moratz – überschreitet die Hauptfigur René (Oliver Urbanski) die Grenzen der DDR, wenn auch nur in der Sprache. Mit der Flucht ins Französische kann er während seines Studiums den in der DDR ungeliebten Hegel-Antipoden Schopenhauer lesen – in einer französischen Übersetzung aus dem Jahr 1942.
Abgeschottete Welt
Frank Naumann (Jg. 1956), gelernter DDR-Bürger und habilitierter Philosoph, schöpft seit seinem ersten Hörspiel aus dem Jahr 1989 aus seinen Erfahrungen und formt sie hier in die vier Leben des René Jokisch um. Dessen erstes Leben ist das Aufwachsen in einem kleinen, abgeschotteten Land, in dem das Périgord oder die Camargue so weit entfernt waren wie der Mond. Im zweiten Leben eignet er sich diese Sehnsuchtsorte über die Sprache an. Während seines Militärdienstes lernt er auf Wache Französisch aus einem zwanzig Jahre alten DDR-Lehrbuch aus der Regimentsbibliothek. Das sei doch „eine tote Sprache“ meint sein vorgesetzter NVA-Offizier. „Eine Weltsprache“ sei es, entgegnet René. „Welche Welt, Genosse Soldat?“, fragt der Offizier und holt ihn damit unsanft auf den Klassenstandpunkt zurück. Rousseau im Original lesen? „Trauen Sie unseren Übersetzern nicht?“
Erst als in Ost-Berlin ein französisches Kulturzentrum eröffnet wird, öffnet sich die Tür zu der verbotenen Welt einen Spaltbreit. René bekommt Kontakt zu zeitgenössischen Büchern und Filmen aus Frankreich – und zu einer Kommilitonin aus Halle, Renée mit drei e, die allerdings einen Studienaustausch zur Republikflucht nutzt. Aber da ist es mit der DDR eh bald vorbei und René beginnt sein drittes Leben in Frankreich und als Programmierer. Am Ende des Stücks steht er vor Beginn seines vierten Lebens: Er beginnt Vietnamesisch zu lernen. Ein väterlicher NVA-Offizier, harmlose Stasi-Leute – in seinem 15. Hörspiel zeichnet Frank Naumann mittels einer sympathischen Hauptfigur das Bild einer „kommoden Diktatur“ (Günter Grass) der kleinen Fluchten und des alltäglichen Sich-Durchwurschtelns.
„Die verbotene Welt“ (vgl. FK 45/12) war nicht das einzige „DDR-Hörspiel“, das zum Hörspielpreis der Kriegsblinden 2013 eingereicht war. Luise Voigt (Jg. 1985) thematisierte in ihrem O-Ton-Stück „Weltall Erde Mensch“ (SWR) den historischen Wandel im thüringischen Nordhausen und Wolfram Höll (Jg. 1986) überblendete in seinem sprachlich extrem durchgeformten Stück „Und dann“ (Deutschlandradio Kultur) das Vorher und Nachher der Wendezeit um 1989/90.
Abweichende Weltwahrnehmung
Ein fast dialektisches Verhältnis von Kontrolle und Kontrollverlust kann man in dem von der Berliner Dramaturgin und Autorin Gesine Schmidt stammenden Hörspiel „Oops, wrong Planet!“ (vgl. FK 43/12) beobachten, einem Stück, in dem sozusagen gesammelte Nachrichten aus dem autistischen Untergrund zu hören sind. Auf unvorhergesehene Änderungen in ihrer Umwelt reagiert eine vom Asperger-Syndrom betroffene Ärztin heftig und ungehalten. Und wenn ihr gesagt wird, dass nach 18.00 Uhr die Bürgersteige hochgeklappt werden, nimmt sie das Bild ganz wörtlich und fragt nach, wie sie sich dann durch die Stadt bewegen könne. Akzeptiert man Wittgensteins These, dann sind die Sprach- und Weltgrenzen für neurologisch abweichende andere als die für neurotypische Individuen. Und es sind nicht zwangsläufig engere Grenzen, wie die Gedichte und Texte der Philosophie studierenden autistischen Zwillinge Konstantin und Kornelius in Gesine Schmidts Hörspiel beweisen, die in ihnen ihr Sprach- und Weltverhältnis thematisieren. Die Zwillinge kommunizieren ausschließlich über das Medium der Schrift, sprechen tun sie nicht.
„Oops, wrong Planet!“, eine Koproduktion von Deutschlandfunk (DLF) und Westdeutschem Rundfunk (WDR), ist das dritte Hörspiel von Gesine Schmidt (Jg. 1966). Regisseur Walter Adler hat dabei in seiner Inszenierung eine neue akustische Form gefunden, indem er von den Schauspielern Matthias Koeberlin und Florian Lukas jedes Wort mit dem immer gleichen Ausdruck einzeln sprechen ließ, und zwar beginnend mit dem letzten und endend mit dem ersten Wort, so dass den Sätzen kein vorverstandener Sinn mitgeben werden konnte. Im Schnitt wurden die Wörter wieder in die richtige Reihenfolge gebracht, so dass die Texte etwas Schwebendes bekamen und die Stimmen etwas Synthetisches. Durch den Gesang von Christof Hartkopf in der Komposition von Pierre Oser wurde außerdem den Texten eine musikalische Dimension hinzugefügt bzw. diese hörbar gemacht. Im Gegensatz zur synthetischen Anmutung der Stimmen von Koeberlin und Lukas setzte Susanne Lothar in ihrer Doppelrolle als Mutter und deren von frühkindlichem Autismus betroffener Tochter ganz auf die in dieser Weise nur ihr möglichen physischen Exaltationen der Stimme. Wenige Tage nach Beendigung der Aufnahmen ist Susanne Lothar gestorben. Wie schon in den Hörspielen „Der Kick“ (RBB; zusammen mit Andres Veiel, vgl. FK 7/06) und „liebesrap“ (Deutschlandfunk; vgl. FK 49/10) löst Gesine Schmidt auch in „Oops, wrong Planet!“ das von ihr recherchierte dokumentarische Material aus seinem „authentischen“ Kontext und macht es in neuer Form erfahrbar, ob im Basler Theater, wo das Stück uraufgeführt wurde, oder im Radio.
Zahlungsvorgänge und moralische Sprechakte
Das Stück „Menschliches Versagen“, dritter Finalist beim diesjährigen Hörspielpreis der Kriegsblinden, war eine Auftragsarbeit des Theaters Konstanz aus dem Jahr 2008 für Lukas Holliger (Jg. 1971), Dramatiker und Satire-Redaktor in der Abteilung ‘Hörspiel und Satire’ des öffentlich-rechtlichen Schweizer Radios. Anlässlich des 10. Jahrestages des Flugzeugunglücks bei Überlingen hat das Stück als Koproduktion des Schweizer Radios und Fernsehens (SRF) mit dem Südwestrundfunk (SWR) ins Radio gefunden. In nur knapp 40 Minuten wird unter der Regie von Stephan Heilmann auf erzähltechnisch vertrackte Weise der Zusammenstoß einer deutschen Frachtmaschine mit einem baschkirischen Passagierflugzeug in der Nacht des 1. Juni 2002 nachgezeichnet, bei dem 71 Menschen ums Leben kamen. Im Februar 2004 wurde der diensthabende Lotse des privaten Züricher Unternehmens Skyguide von einem Architekten aus Ossetien, der bei dem Unglück seine Frau und seine beiden Kinder verloren hatte, getötet.
„Der Lotse“ (Vincent Leitersdorf) und „der Hinterbliebene“ (Michael Wittenborn) sind die einzigen benannten Rollen in der Hörspielfassung des Stoffes, alle weiteren werden von vier anonymen Stimmen (zwei weiblichen und zwei männlichen) gesprochen, die auch die weiteren Sprachschichten des Stückes, Schlagzeilen aus der Boulevardpresse, Zitate aus dem offiziellen Untersuchungsbericht, Gerichtsprotokolle etc. sprechen. Dazwischen ploppt immer wieder eine angeregte Dinner-Unterhaltung zweier befreundeter Paare hoch. Eines erzählt von seinem Rückflug aus dem Kreta-Urlaub, bei dem der Mann zu einem vertauschten Koffer mit wertvollem Inhalt kam, den er allerdings nicht zurückgeben will. Dass die beiden mit ihrem Kofferproblem die Ursache für die 40-minütige Verspätung des Flugzeuges waren, das den Lotsen so abgelenkt hat, dass er die Kollision der beiden anderen Maschinen mitverursacht hat, ist ihnen nicht bewusst.
Die kurze Vorgeschichte der Flugbewegungen und die lange Nachgeschichte des Unglücks, das sich auf die 50 Sekunden zwischen dem ersten Alarm des Kollisionswarnsystems und den Zusammenstoß komprimiert, führen zu einer disparaten Zeitstruktur des Hörspiels, in der Erzählzeit und erzählte Zeit ineinander verschachtelt sind. Während in der Nacht des Unglücks gleich mehrere Kontrollmechanismen bei Skyguide versagt haben, läuft die zivil- und strafrechtliche Aufarbeitung des Geschehens wieder nach einem formalen Regelwerk, unter dem zynisch das Primat der Ökonomie durchschimmert. Eine Entschädigung der Opfer unter Verzicht aller weiteren Ansprüche der Hinterbliebenen würde es „mit unseren Toten in ihren Aktenkoffern“ der Firma Skyguide erlauben, in Amerika gegen die Herstellerfirma des Kollisionswarnsystems zu klagen und dabei eventuell noch finanziellen Gewinn zu machen. Deshalb darf sich der Lotse auch nicht für seinen Fehler entschuldigen, weil das juristisch als Eingeständnis von Schuld gewertet werden könnte – und die Firma möglicherweise viel Geld kosten würde. Deswegen muss das Sagbare streng kontrolliert werden, denn mit Zahlen diskutiert man nicht und die Grenzen der Welt, deren Sprechakte Zahlungsvorgänge sind, sind für moralische Akte des Mitgefühls undurchlässig.
„Tragödiensüchtiges Beharren“
Aufgrund der Weigerung, sich zu entschuldigen, tötet der Hinterbliebene den Lotsen („…weil du dich trotz Untröstlichkeit nie entschuldigt hast, sondern lieber das Vermögen deiner Aktiengesellschaft schützt“). Es wird ein symbolischer Akt exekutiert: „Mit dir töte ich alle, die so sind wie du“, sagt der Mann aus Ossetien. Der Ankläger wird dessen Motiv als „tragödiensüchtiges Beharren auf einer Entschuldigung“ werten. Doch selbst, als im Hörspiel die Begegnung zwischen dem Lotsen und dem Hinterbliebenem ein zweites Mal durchgespielt wird und jetzt die Entschuldigung zur Versöhnung führt, hat das keinerlei Konsequenzen für den weiteren Weg durch die Instanzen.
Es sind die Systeme und ihre Umwelten, die nach je eigenen Algorithmen und Verfahrenstechniken operieren. Das gilt nicht nur für soziale, sondern auch für technische Systeme, die die sozialen irritieren: „Die ungenügende Autorität des Kollisionswarnsystems scheitert an kleinsten menschlichen Gegenbefehlen“, heißt es im Stück, und das führe im schlimmsten Fall dazu, dass „die Passagiere an hochgradiger Zerstörung ihrer Körper sterben“. In weniger dramatischen Fällen komplexen Systemversagens und Kontrollverlusts fällt eine Mauer und eine neue Welt der Freiheit öffnet sich.
Für Gesine Schmidt wie für Lukas Holliger ist das dokumentarische Material der Rohstoff für die ästhetische Überformung nach theatralen oder radiophonen Kriterien, ebenso wie für Frank Naumann die eigene Biografie Teile des Materials für seine Originalhörspiele liefert. Die Sprach- und Weltgrenzerfahrungen, die sie beschreiben, sind ebenso unterschiedlich wie die Ästhetiken, derer sie sich bedienen. Auf eine Linie bringen könnte man die drei Stücke nur, wenn man die Welt des Hörspiels verkleinerte und eine Regelpoetik schüfe, die alle Abweichungen kontrollierte und ausmerzte, aber das klappt noch nicht einmal auf Dederisch. Wer von den drei Nominierten den Hörspielpreis der Kriegsblinden 2013 erhält, wird am 11. Juni bei der Preisverleihung im kleinen Sendesaal des WDR in Köln bekannt gegeben.
Jochen Meißner – Funkkorrespondenz 23/2013
Schreibe einen Kommentar