Sounds like Hörspiel
Robert Schoen: Heidi Heimat
HR 2 Kultur, So 07.04.2013, 14.05 bis 14.55 Uhr
Man stelle sich ein Kind vor, das gezwungen ist, seine Heimat zu verlassen und sich in der Fremde zurechtzufinden. Aus der ursprünglichen Naturwelt der Berge in die kalte Großstadt geworfen, ist es gezwungen, sich gegen starke Widerstände anzupassen. Das ist, kurz gefasst, eine Lesart der „Heidi“-Romane, die die Schweizer Autorin Johanna Spyri 1880/81 veröffentlichte („Heidis Lehr- und Wanderjahre“ und „Heidi kann brauchen, was es gelernt hat“).
Mit dem naiven Naturkind haben die Akteure, die in Robert Schoens Hörspiel „Heidi Heimat“ den Schweizer „Heidi“-Film aus dem Jahr 1952 (Regie: Luigi Comencini) nacherzählen, wenig gemein – außer dem Tatbestand, dass sie ihre jeweilige Heimat nicht freiwillig verlassen haben. Es sind Asylbewerber und anerkannte Asylanten aus Somalia, Togo, Angola, Usbekistan, Palästina, Georgien, Guinea, dem Kongo und dem Iran; sie sind aus (Bürger-)Kriegsgebieten oder vor politischer Verfolgung und staatlichem Terror geflohen und leben mittlerweile zwischen zwei und zwanzig Jahren in Deutschland.
Mehr noch als in Robert Schoens mit dem Hörspielpreis der Kriegsblinden ausgezeichneter Joseph-Roth-Paraphrase „Schicksal, Hauptsache Schicksal“, die die Motivstruktur von Roths Novelle „Die Legende vom heiligen Trinker“ nachverfolgte (vgl. FK 51-52/10), ist in „Heidi Heimat“ der Film nur die Folie für ein indirektes Erzählen über die eigenen biografischen Erfahrungen und das Verhältnis zur Welt der Nacherzähler. Die Schwierigkeiten mit dem Zweitspracherwerb, unter denen „das Heidi“ auch schon zu leiden hatte, werden natürlich thematisiert – und man hört sie manchen Sprechern auch an. In der deutschsprachigen Medienwelt, in der kaum ein O-Ton unübersetzt und kein Film unsynchronisiert bleibt, sind diese fremden Sprachmelodien mit unangepasster Syntax interessant zu hören.
Von Ferne erinnert dieses Verfahren an das aus dem Jahr 1984 stammende Hörstück „Verkommenes Ufer“ von Heiner Goebbels, in dem er Passanten den gleichnamigen Text von Heiner Müller lesen ließ und dadurch ungeahnte Bedeutungsebenen freilegte. In „Heidi Heimat“ werden den verschiedenen Klangqualitäten der Sprecher, die dem Verstehen durchaus einen gewissen Widerstand entgegensetzen, von edlen Musiken abgedämpft. Am prominentesten von dem Schweizer Duo „Stimmhorn“, das aus einer Mischung von Alphorn, Kunstjodlern und Obertongesang eine Art „imaginäre Folklore“ produziert. Das wirkt wie ein musikalisches Sicherheitsnetz, das unter die stets gefährdeten Artisten in der Zirkuskuppel gespannt ist und den Gesamteindruck „sounds like Hörspiel“ erzeugt.
Dabei könnten die Statements der Akteure durchaus für sich stehen. Denn die Stärke des Stücks ist die Inszenierung des doppelten Blicks. Des Blicks auf den „Heidi“-Film, auf den manche mit unmittelbarer Rührung, andere mit kritischer Distanz reagieren, und des Blicks durch den Film hindurch auf die eigene Geschichte und die Gesellschaft, in der man sich befindet. Die Ambivalenz gegenüber der ursprünglichen Heimat der Nacherzähler, die zwar ein Sehnsuchtsort bleibt, an den man aber nicht zurückkehren kann oder will, wird kontrastiert mit der ambivalenten Gefühlslage, die man dem gegenwärtigen Aufenthaltsort entgegenbringt. „Ich fühl mich nicht wohl in Deutschland, aber ich fühl mich wohl in Köln“, sagt ein Emigrant aus Togo, der hier nicht mehr fürchten muss, im Morgengrauen von der Geheimpolizei abgeholt zu werden. Ähnlich ambivalent verhält es sich mit Robert Schoens Hörspiel, bei dem man nicht genau weiß, wohin die Kombination aus dokumentarischem Material und allzu wohltemperierten Neo-Ethno-Sounds führen soll.
Jochen Meißner – Funkkorrespondenz 15/2013
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