Relevanz durch Recherche
Die Top 3 des Hörspielpreises der Kriegsblinden 2014
Der „Hörspielpreis der Kriegsblinden – Preis für Radiokunst“ ist ein Indikator dafür, auf welchem ästhetischen Stand sich das Hörspiel befindet und wie das Selbstverständnis der einreichenden Redaktionen aussieht. Der Preis reflektiert damit immer auch, was das Radio ist und was es jenseits von Berichterstattung, musikalischer Grundversorgung, Wetter und Verkehr zu leisten vermag. Seit drei Jahren wird bei dem Wettbewerb nicht mehr nur ein Preisträger gekürt, sondern die 15-köpfige Jury – zum einen Teil Vertreter des Bundes der Kriegsblinden, zum anderen von der Film- und Medienstiftung NRW benannte Vertreter aus Wissenschaft, Kultur und Journalismus – nominiert drei Favoriten. Die drei Stücke die in diesem Jahr nominiert wurden, arbeiten auf unterschiedliche Art mit dem Medium Radio in seiner dokumentarischen Funktion und basieren auf gründlicher Recherche. Offensichtlich will man auch über den Hörfunk hinaus im gesellschaftlichen Diskurs relevant sein.Die besten Ohren braucht man wohl für Gert Roland Stiepels 55-minütige NDR-Produktion Abschiedsgeschenk, denn das eigentlich Interessante findet neben dem Plot statt. In Werbespots, Radionachrichten und Fernsehtalkshows werden die Hintergründe erläutert, auf denen die sich im Vordergrund abspielende Handlung basiert. In der Inszenierung von Christoph Dietrich passiert das so beiläufig, wie es einem ‘Nebenbei-Medium’ zukommt. Da wird dazwischengequatscht und drübergesprochen, was stets eine Herausforderung ist und sich wohltuend von einem schnell pädagogisierend wirkenden Nacheinander abhebt. Man tut also gut daran, den Nebensträngen (in der Regel links im Stereobild) zu folgen. Während Michael (Klaus Manchen) und seine Frau Susanne (Monika Lennartz) versuchen, die Berechnung von Michaels persönlichem Restlebenswertindex (kurz: peReli) unter 34 zu drücken, damit sie die das titelgebende Abschiedsgeschenk von 50.000 Euro für das freiwillige Ableben auch wirklich bekommen, wird im Radio gerade verkündet, dass der Begriff „kassenunverträglicher Langzeitleistungsinanspruchnehmer“ zum Unwort des Jahres 2040 gewählt wurde.
Ein 74-jähriger Nachwuchsautor
Der Kulturbetrieb funktioniert also mit der bewährten durchschlagenden Wirkungslosigkeit, während die Ökonomisierung aller Lebensbereiche auf die Spitze getrieben wird. Die Qualität von Parodie und Satire lässt sich an der Genauigkeit messen, mit der sie gesellschaftliche Verhältnisse kenntlich macht. Als promovierter Theaterwissenschaftler und ehemaliger Werbetexter versteht sich Gert Roland Stiepel auf dramatische Formen ebenso wie auf den Jargon des Marketings, das selbst einen aufgenötigten Selbstmord feiern kann, ohne auf Religion, Transzendenz oder Ähnliches zurückgreifen zu müssen.
Zwischen 1986 und 1990 hat Stiepel als Koautor von Peter Jacobi fünf sogenannte Mitmach-Hörspiele verfasst, bei denen die Hörer per Telefon den Fortgang der Handlung beeinflussen konnten. „Abschiedsgeschenk“ ist nun Stiepels erstes eigenständiges Langhörspiel: mit 74 Jahren und einem selbst ermittelten peReli von 289. Damit ist er definitiv der älteste Nachwuchsautor und schlägt sogar Jungfilmer Loriot, der gerade mal 65 Jahre alt war, als er seinen ersten Kinofilm drehte.
Das Gesagte, das Gemeinte und das Getane
Überspitzungen und Vergröberungen sind die einfachsten Techniken mit denen sich komische Effekte erzielen lassen. Grundvoraussetzung dafür ist, dass die Hörer auf die Differenz von Gesagtem und Gemeintem geeicht sind und nur selten das tun, was das Radio von ihnen will. Was aber, wenn man es mit einem Gegenstand zu tun hat, der nicht mehr zu vergröbern oder zu überspitzen ist? Der sich den Strategien der Überbietung entzieht, weil er selbst seine Mittel bis zum Anschlag ausreizt? Im Jahr 1994 war es die Radiostation RTLM, die aus der ruandischen Hauptstadt Kigali den Völkermord der Hutu an den Tutsi anstachelte und feierte. Und das Programm klang gar nicht so, wie man es von einem Propagandasender erwartete. Lockere Moderationen, coole (auch westliche) Popmusik und dazwischen ein bisschen Machiavelli. Statt Wetter und Verkehr ein paar Hinweise darauf, wo sich „Kakerlaken“ – so der RTLM-Jargon für die Tutsi – verstecken, nebst der Aufforderung, sie aufzustöbern und umzubringen.
Der Schweizer Theatermacher Milo Rau hat das Material des ruandischen Senders aufgearbeitet und daraus die Theaterinszenierung Hate Radio gemacht. Keine Eins-zu-eins-Wiederaufführung einer Hörfunksendung, sondern deren Überformung, die auf dem Medienwechsel vom Radio auf die Theaterbühne basierte und das Stück mit Betroffenen aus Ruanda inszenierte. Der Wechsel zurück ins Radio ist zugleich einfacher und komplizierter, als man zunächst vermutet. Milena Kipfmüller, Dramaturgin an Milo Raus International Institute of Political Murder (IIPM), hat die rund 55 Minuten lange Einrichtung für das deutschsprachige Radio (WDR und ORF) besorgt und dabei festgestellt, das Primetime-Radioshows erstaunlich indifferent sind, was deren Inhalte betrifft. So lange die Form stimmt, lassen sich die Hörer sowohl zu Anrufen und Gewinnspielen als auch zu mörderischen Handlungen animieren. Die Logik des formatierten Radios hat ihre eigene Faszination, der sich auch die (echten) Radiomoderatoren nicht so einfach entziehen konnten – auch wenn sie in Zwischenspielen Augenzeugenberichte von überlebenden Opfern der Massaker vortrugen.
In Milena Kipfmüllers Inszenierung bleibt das Radio in seiner Form gefangen. Es ist dokumentarisch in der Verwendung der Mittel eines formatierten Programms, ohne auf Originaltöne zurückzugreifen und auch ohne dass das Radio selbst zum Schauplatz der Auseinandersetzung wird. Im Prinzip könnte das formatierte Hate Radio immer so weiter laufen, denn es ist eine selbstreflexive Maschine, die Realitäten jedweder Couleur verarbeitet. Die Realität muss nicht einmal real sein. Ideologien, diffuse Einstellungen und emotionale Affekte reichen vollkommen aus. Aber da gibt es ja noch die Systemumwelt, die Medien nachhaltig schädigen können. Radio ist eben nicht nur Radio.
Hörspiel mit Migrationshintergrund
Aus verschiedenen Umwelten kommen die Akteure von Heidi Heimat, Robert Schoens Hörspiel mit Migrationshintergrund, einer Autorenproduktion für den Hessischen Rundfunk (HR). Für den Sender hatte er schon seine Joseph-Roth-Paraphrase „Schicksal, Hauptsache Schicksal“ realisiert, die vor drei Jahren mit den Hörspielpreis der Kriegsblinden ausgezeichnet worden war (vgl. FK 11/11).
Jenseits des Kitsches, der normalerweise mit Johanna Spyris „Heidi“-Büchern von 1880/81 oder der Verfilmung aus dem Jahr 1952 verknüpft ist, entwickelt Robert Schoen eine spezifische radiophone Sprache, die eine Sprache der Stimmen seiner Akteure ist. Die sind, im Gegensatz zu den Moderatoren von „Hate Radio“ nicht immer professionell, was aber genau den Reiz der Produktion ausmacht. O-Töne aus dem Film gibt es nicht. Schoen bewegt sich ganz auf der Metaebene der Nacherzählung. Die Migranten reichern die Geschichte der Romanfigur mit ihren eigenen Erfahrungen und Interpretationen an. Gemeinsam ist ihnen, dass sie genau wie Heidi ihre Heimaten – von Guinea bis Georgien, von Angola bis Usbekistan – nicht freiwillig verlassen haben und gleichsam durch den Heidi-Film hindurch ihre eigene Geschichte sehen.
Wenn sich ein Migrant aus Togo zwar nicht in Deutschland, wohl aber in Köln wohlfühlt, dann erzeugt das nicht nur einen komischen Effekt und ist für Rheinländer unmittelbar nachvollziehbar, sondern sprengt zugleich die territorialen Zuordnungen, die die Welt aufteilt in Deutschland, in Herkunftsländer und in sogenannte sichere Drittstaaten. Der Hörer, der eine solche Vielstimmigkeit von Akzenten, Sprachfärbungen und -melodien nur selten und noch seltener unkommentiert hört, hat hier die Gelegenheit, das Land, in dem er lebt, und die Bewohner dieses Landes neu zu sehen und vor allem neu hören zu lernen. Im besten Fall ist das Dokumentarische also das Neue.
Jochen Meißner – Funkkorrespondenz 24/2014
Am 17. Juni wurde „Hate Radio“ von Milo Rau und Milena Kipfmüller im Kleinen Sendesaal des WDR mit dem 63. Hörspielpreis der Kriegsblinden ausgezeichnet.
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