Rechtefrei und Spaß dabei

Robert Schoen: Tief im Archiv – Eine Hörspielschnupperei von 1949 bis 1963

HR 2 Kultur, So, 29.0.2023, 22.05 bis 23.14 Uhr

Der Autor und Regisseur Robert Schoen hat in den Archiven des Hessischen Rundfunks an den Kartons der Hörspielabteilung aus den Jahren 1949 bis 1963 geschnuppert und zweiminütige Duftproben genommen. Darauf reagiert er in der ihm eigenen Weise.

Als der Fernsehsender Tele 5 die Einstellung seines erfolgreichsten Formates „SchleFaZ“ („Die schlechtesten Filme aller Zeiten“ mit Oliver Kalkofe und Peter Rütten) bekanntgab, sickerte schnell durch, dass bei dem Sender offenbar übebrhaupt niemand mehr arbeitet und er nur noch eine Abspielstation für den Mutterkonzern Warner Bros. Discovery ist. Und weil dort irgendwelche Excel-Spezialisten festgestellt hatten, dass in einer Spalte bei Produktionskosten keine Null steht, stellten sie das Format kurzerhand ein.

Wie Kulturradio funktionieren würde, wenn in der Hörspielsparte bei den Kosten nichts mehr stehen darf, hat der Hörspielautor und aktuelle Kriegsblindenpreisträger Robert Schoen in einer 69 Minuten langen „Hörspielschnupperei von 1949 bis 1963“ unter dem Titel „Tief im Archiv“ durchexerziert.

Es ist gar nicht so schwierig: Man nehme gut abgelagerte Stücke aus dem Archiv, für die weder Urheber- noch Leistungsschutzrechte abgegolten werden müssen, lasse die Texte von ChatGPT schreiben und engagiere für ihren Vortrag Nora, Edmund, Kimber, Grim, Minerva, Oswald, Callum, Ethan, Nicole, Robert, Ryan, Alice, Clyde, Rhaadhika und Kellan – allesamt synthetische Stimmen der KI-Firma ElevenLabs. Dazu besorge man sich rechtefreie Geräusche aus dem Netz und lasse die Musik ebenfalls von einer KI der Firma Suno komponieren. Dann ist man zwar nicht ganz bei Null, aber die Kosten würde sich selbst ein einzelner Rundfunkbeitragszahler leisten können.

Robert Schoen hat sich für diese Produktion seine Mittelnamen Egmont enthüllt – nach der Figur aus Goethes Trauerspiel. „Einer, der aus dem Unbewussten lebt, der Vertrauen hat auf die Fügung des Schicksals, sein Leben gleichsam wachend träumt“, definiert Schoen die Figur. Später wird er sich als „stellenlosen Hörspielmann“ bezeichnen, nach der Figur des „stellenlosen Schlagzeugmanns“ aus dem Hörspiel „Inventar der großen Stadt“ von Wolfgang Weyrauch.

Das Konstruktionsprinzip der Hörspielcollage ist einfach: erst gibt es zwei Minuten Hörspielausschnitt, dann folgen zwei Minuten von Schoens subjektiven Abschweifungen, Gedanken und Experimenten. Los geht es mit den ersten 120 Sekunden aus einer „Egmont“-Verhörspielung aus dem Jahr 1949, dann folgen zwei Minuten „Abschweifung“, dann die Minuten 4 bis 6 aus einem Hörspiel aus dem Jahr 1950 (Carl Zuckmayers „Der Gesang im Feuerofen“), dann wieder zwei Minuten Abschweifungen, gefolgt von den Minuten 8 bis 10 aus einem Hörspiel aus dem Jahr 1951, dann wieder zwei Minuten Abschweifung und so weiter, bis man im Jahr 1963 angekommen ist. Zum Abschluss wirft Schoen dann noch einen Blick in die Gegenwart der Hörspielrezeption.

Her das Archiv im RBB. Bild: Philipp Nitzsche.

Her das Tonband-Archiv im RBB. Bild: Philipp Nitzsche.

Olfaktorische Qualität hat Schoens „Hörspielschnupperei“ zwar nicht, man hört aber als akustische Qualität die Patina, die die Stücke angesetzt haben, die Bühnenhochlautung, derer sich die Schauspieler befleißigten – Schauspielerinnen sind eher selten zu hören. Und eine optische Qualität stellt sich gleichfalls unmerklich ein. Man stellt sich vor, wie die Akteure in schmal geschnittenen Pfeffer-und-Salz-Anzügen vor den Neumann-Mikrofonen stehen oder an Resopal-Tischen sitzen, während hinter der Scheibe ein adrett gescheitelter Regisseur sitzt, wie ihn Dieter Hildebrandt in der Verfilmung von Heinrich Bölls Hörfunksatire „Doktor Murkes gesammeltes Schweigen“ aus dem Jahr 1964 verkörperte. „Kino im Kopf“ auf einer „inneren Bühne“ wie es das Alte Hörspiel postulierte, kann auch ganz schön sein.

Warum Schoen seine Reise durch das Archiv im Jahr 1963 beendet? Weil für ihn mit Paul Pörtners „Schallspielstudie I“ aus dem Jahr 1964 das Neue Hörspiel mit großem N beginnt – keine ganz unplausible Grenzziehung.

Zwischen Pathetik und Komik

Sämtliche Hörspiele sind monophon, akustische Räume gibt es nur in einer Tiefenstaffelung, nicht in der Breite eines Stereopanoramas. Geräusche und Musik kommen in den Ausschnitten kaum vor. Stattdessen wird das gesprochene Wort mit einer Ernsthaftigkeit vorgetragen, die manchmal etwas anrührend Pathetisches hat, manchmal aber auch etwas unfreiwillig Komisches.

Robert Schoen reagiert auf jedes Hörspiel mit spezifischen Mitteln. Gegen die Anklage in Zuckmayers „Gesang im Feuerofen“ setzt er einen KI-generierten Text, den „Gesang der Super-Intelligenz“, der dialogisch in das Originalhörspiel eingefügt wird. Der künstlich erzeugte Text trifft den Sound der Vorlage schmerzhaft präzise: „Am Rande eines von uns geschaffenen Abgrunds stehen wir, die Erben Gaias, die vergessen haben, was es bedeutet, wahrhaftig zu leben. Der Wind singt Lieder von verlorenem Glanz, während die Ozeane den Schmerz der von uns Gefangenen bezeugen.“

Im nächsten Hörspiel wechselt sich Schoen selbst in das Hörspiel ein und übernimmt die Rolle des Mannes in der Hörszene „Premiere oder Der junge Dichter und die Theaterkrise“ von Rudolf Frisé. Der Duktus entspricht dem Original, und die Stimme ist so gefiltert, dass sie der Vorlage zum Verwechseln ähnelt.

Im anschließenden Hörspiel, der Folge „Gleichberechtigung“ aus der Serie „Die Familie Hesselbach“ werden dann die Männer aus den Dialogen herausgeschnitten. Kein Platz mehr für reaktionäre Denkfiguren wie: „In dem Moment, in dem der Mann als der Ernährer der Familie nicht mehr die letzte Entscheidung in der Familie treffen kann und von seiner Frau sozusagen mit dem Gesetzbuch in der Hand zu jedem Blödsinn gezwungen werden kann, da ist die Familie nicht mehr lebensfähig“. Stattdessen gibt es KI-generierte und -komponierte Lieder, die auch Nena nicht besser hätte hinkriegen können.

In einer weitere Abschweifung lässt Schoen seine Stimme von einer KI klonen und einen auf Englisch übersetzten Abschiedsbrief verlesen. In einer anderen steigert er die Wirkung eines sprachzentrierten Hörspiels durch einen Soundtrack, der hörbar macht, was alles durch bloße Geräusche erzählt werden kann. Überhaupt werden einige Hörspiele auf ähnliche Weise verbessert, wie Robert Gernhardt als „Lyrikwart“ in der Wochenzeitung „Die Zeit“ Gedichte verbessert hat. Auch wenn ein Hörspiel, nämlich Jakob Wassermanns „Der Fall Maurizius“, keine Abschweifung zulässt.

Zum Abschluss des Stückes gibt es ein paar Sätze aus den Jurybegründungen zum Hörspiel des Monats aus diesem Jahr. Die, muss man wohl hinzufügen, sind wahrscheinlich nicht von einer KI geschrieben worden – auch wenn sie so generisch klingen, dass man unmöglich das Hörspiel erkennen kann, auf das sie sich beziehen. Der Hessische Rundfunk hat Schoens „Tief im Archiv“ übrigens für das Hörspiel des Monats Oktober nominiert. Wenn wir also im kommenden Jahr, anlässlich des 100. Geburtstags des deutschen Hörspiels, vermehrt Stücke aus den Archiven bis 1965 hören werden, ist das kein gutes Zeichen für das gegenwärtige Hörspiel. Mit Goethes „Egmont“ ist es ja auch nicht gutgangen. Hoffen wir, dass es mit Robert Schoen besser ausgeht.

Jochen Meißner – KNA Mediendienst, 01.11.2023

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