Im Teufelskreis der Konventionen – Das Hörspiel beim Prix Europa 2023

Während in Deutschland gerade über die Abschaffung anspruchsvoller Kulturprogramme diskutiert wird, fand vom 22. bis zum 27. Oktober in Berlin zum 37. Mal der Prix Europa für Fernseh-, Hörfunk- und Internetangebote statt. Nach dreijährigem „Exil“ in Potsdam war man ins Haus des Rundfunks an der Masurenallee zurückgekehrt, um die Highlights aus den Programmen der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten aus ganz Europa zu diskutieren – oder das, was die einreichenden Anstalten dafür hielten.

Prix Europa Trophäe. Bild: Mateusz Skora.

Prix Europa Trophäe. Bild: Mateusz Skora.

In der Hörspielkategorie des Prix Europa waren das 26 Stücke, die um die Stier-Trophäen des niederländischen Künstlers Anthon Hoornweg für die „Beste Europäische Hörspielserie“ und das „Beste Europäische Einzelhörspiel“ konkurrierten. Die Jury bestand aus knapp 30 Kollegen, die in der Regel selbst ein Stück im Wettbewerb hatten. Also wurde entsprechend ausführlich und wertschätzend diskutiert. Bewertet wurden verschiedene Aspekte der Stücke wie die „Entwicklung und Durchführung der Idee“, die „Klanggestaltung“ oder die „Verbindung zur Hörerschaft“ auf einer Skala von 1 bis 10. Aus den einzelnen Werten ergibt sich das finale Ergebnis.

Schon dieses Verfahren tendiert zum kleinsten gemeinsamen Nenner, was Rückwirkungen auf die Nominierungspraxis der einreichenden Anstalten hat – ein Teufelskreis, der zu einer fortschreitenden Nivellierung führt. Wer riskante ästhetische Experimente sucht, wird beim Prix Europa also immer weniger fündig.

Außerdem wird am Ende jedes einzelnen Wettbewerbstages abgestimmt, wenn man noch gar keinen Überblick über das gesamte Feld der nominierten Stücke haben kann. Nur so ist es erklärlich, dass die am ersten Tag vorgestellte Konfektionsware „Vorher-Nachher: Anna Lindh 2003“ von Jörgen Hjerdt für den Schwedischen Rundfunk über den Mord an der damaligen Außenministerin den Prix Europa als „Beste Europäische Hörspielserie“ bekommen konnte.

Wie nach Rezept zusammengebraut

Innerhalb der Rundfunkhäuser scheint flächendeckend der Konformitätsdruck und der Blick auf die Abrufzahlen immer mehr die Produktionen zu bestimmen. So beschränken sich denn auch die Diskussionen häufig auf Handwerkliches und lassen keinerlei Schluss auf das spätere Abstimmungsverhalten zu – da kann ein Stück noch so gelobt werden.

Der Prix Europa für das „Beste Europäische Einzelhörspiel“ ging an die Produktion „Dear Harry Kane“ von James Fritz unter der Regie von Sally Avens für Radio 4 der BBC. Es geht um einen Taxifahrer aus Sri Lanka, der der größte Fan des britischen Fußballstars Harry Kane ist und ausdrucksvoll mit dessen früherem, damals noch glücklosem Verein Tottenham Hotspur leidet. Über einen Arbeitsvermittler, der 75.000 Rupien verlangt, verdingt er sich als Bauarbeiter in Katar, um beim Bau eines Fußballstadions zu helfen. Es kommt wie es kommen muss: Er wird nicht bezahlt und stirbt schließlich an Hitze und Entkräftung, nicht aber bevor er seiner großen Liebe gestanden hat, dass er sich für den Job nicht mit 75.000, sondern mit dem Zehnfachen, also 750.000 Rupien verschuldet hat, weshalb eine vorzeitige Rückkehr in die Heimat unmöglich ist.

Das ist der einzige Punkt, an dem das Stück politische Relevanz hätte entwickeln können, denn für die Ausbeutung sind nicht anonyme, kriminelle Marktkräfte verantwortlich, sie beginnt vor Ort. Handwerklich ist an dem Stück überhaupt nichts auszusetzen. Die genaue Figurenzeichnung, die Dialoge und die exzellente schauspielerische Leistung sind im Dienst eines gefühligen Melodrams aber ziemlich verschwendet. Das ganze Stück wirkt wie nach Rezept zusammengebraut. Man nehme: Fußball, eine exotische Liebesgeschichte und eine böse Umwelt, an der der Protagonist tragisch scheitert und fertig ist ein Publikums-Hit und Preisträger-Stück.

Ähnlich tief meinte man sich beim Westdeutschen Rundfunk bücken zu müssen, um der angepeilten weiblichen Hörerschaft auf Augenhöhe begegnen zu können. Bevor eine neue Serie überhaupt geschrieben wurde, wurden Studien gewälzt und Hörer befragt, was denn so gewünscht werde. Herausgekommen ist dabei die 20-teilige Mystery-Serie „Forever Club“, die in einem Internat spielt und deren Protagonistin die Gabe hat, tote Menschen zu sehen. Auf der Plattform YouTube wurde die mit Mood-Animationen illustrierte erste Folge 340.000 Mal aufgerufen, die zweite Folge gerade noch knapp 2.400 Mal, ab Folge acht werden die Abrufzahlen dreistellig.

Auf anderen Podcastplattformen habe das besser funktioniert, teilte die Dramaturgin Natalie Szallies mit, da habe es 800.000 Downloads gegeben. Die Coming-of-Age-Geschichte, die Female Empowerment zum Ziel habe, sei wie erwartet/beabsichtigt zu 70 Prozent von Frauen gehört worden, und obwohl es nicht die erfolgreichste Serie des WDR war, wird es eine zweite Staffel geben. Die wird übrigens nicht mehr von der Produktionsfirma Junique der Autorin Jette Volland produziert, sondern vom WDR – aus Kostengründen. Wer konnte auch ahnen, das Outsourcing nicht einmal im ersten Anlauf Kosten sparen würde.

„How dare you?“ war förmlich zu hören

Die Frage nach den Zahlen, die als Running Gag in den täglichen Jurydiskussionen als die Frage nach der „Demografie“ gestellt wurde, hätte man auch an sich selbst stellen sollen. Als am letzten Tag das Porträt „Ich bin vom Licht fasziniert“ der weitgehend vergessenen Malerin Elin Danielson-Gambogi (1861-1919) von Iira Halttunen für den Finnischen Rundfunk vorgestellt wurde, wurde bemängelt, dass die beste Freundin der Malerin als Ehebrecherin so schlecht wegkam.

Ein negativer weiblicher Charakter in einem feministischen Stück – man hörte förmlich das nur wenig ironisch gebrochene „How dare you?“ in der Diskussion. Was vor allem damit zu tun hatte, dass die versammelte Jury vor der Sounddesignerin Tiina Luoma auf den Knien lag – und das durchaus zurecht. So ausdifferenziert hört man Regengeräusche und Musik selten ineinander verwoben. Warum sollte man nicht die Beste engagieren – auch wenn der Text nur ein vorhersehbares ASMR-Einschlafstück (Autonomous Sensory Meridian Response) hergibt.

Im Zuge dieser Diskussion hätte man kurz innehalten und feststellen können, dass knapp drei Viertel der Diskutanten weiblich waren, die festangestellten Hörspieldramaturgen zu zwei Dritteln weiblich und von den 26 Wettbewerbsbeiträgen 16 von Frauen stammten beziehungsweise bei Autorenteams mindesten eine Frau beteiligt war. Ähnlich verhält es sich mit den Protagonistinnen. Eine „Medea von Nebenan“ war die Hauptfigur im gleichnamigen kroatischen Stück. Im österreichischen Hörspiel hörte für Eurydike die Liebe nimmer auf, in einer BBC-Produktion wurden „Die Frauen von Troja“ nach der Niederlage ihrer Stadt von den Griechen versklavt.

Weil man für das jährliche Literatur-Nobelpreisstück des Schwedischen Rundfunks 2022 keine Rechte vom Verlag bekam, verfasste die Dramaturin Lola Zackow innerhalb von zwei Tagen unter dem Titel „Ernauxs Mädchen“ eine Paraphrase, die sie dann gleich selbst inszenierte und sprach. Das reichte zu einer „Lobenden Erwähnung“, dem zweiten Platz beim Prix Europa. Die Liste weiblicher Hauptfiguren lässt sich fortsetzen und endet nicht erst bei der blinden Protagonistin der niederländischen Serie „Donkerslag“, die mit der beinahe tödlich endenden Folge „Nachtschwimmen“ antrat.

Emotion vor Reflexion

Man schämt sich fast, aufzuzeigen, wie klischeehaft und allgegenwärtig im europäischen Hörspiel doch relativ triviale feministische Narrative bedient wurden, wie oft Emotion vor Reflexion ging und wie groß der blinde Fleck dafür in den Jurydiskussionen war. Dabei ist es völlig gleichgültig, ob Jungs oder Mädchen mit ihren Förmchen im Sandkasten einer Hörspielabteilung spielen. Denn die Stücke waren früher, als das Geschlechterverhältnis auf der Macherseite noch etwas ausgeglichener war, auch nicht besser.

Es sind die Förmchen, die man wegwerfen sollte, um den gesellschaftlich finanzierten Freiraum wieder zu einem Abenteuerspielplatz zu machen, auf dem man ästhetische Erfahrungen machen kann, die jenseits der marktgängigen „Joy of Repetition“ liegen. Denn genau dafür leistet man sich in den liberalen Demokratien Europas einen öffentlich-rechtlichen Rundfunk, auch wenn der seinem Auftrag immer weniger gerecht werden will.

Einen signifikanten Unterschied im Bereich weiblicher Opfererzählungen gab es allerdings: In Stücken aus Osteuropa spielte der Krieg in der Ukraine eine Rolle, unter anderem in den Minidramen „Muss man im Krieg wirklich putzen?“ vom Slowakischen Rundfunk. Westlich von Polen spielte das Thema überhaupt keine Rolle.

Ein bisschen mutig war die belgische Autorin Mathilde Schoenauer Sebag, die es in ihrem Stück „Auch Kieselsteine sterben“ wagte, ein Hörspiel über Materie zu machen. Darin entdeckt die Chemikerin Adelaide (auch hier eine weibliche Protagonistin), dass sie mit Atomen kommunizieren kann. Physikalisch vollkommen korrekt wird die Geschichte der Materie vom Urknall bis zu einer Sonneneruption als Brutstätte schwerer Elemente erzählt, und Schoenauer Sebag weiß auch, in wunderbarem Sounddesign die subatomaren Welten zu etablieren und den fiktionalen Charakter ihrer Protagonistin mit dem zu verschmelzen, was Materie eigentlich ist: neben Protonen, Elektronen und Neutronen nämlich zu 99,9 Prozent Leere.

Leider haben sich auch in dieses Stück Narrative von Achtsamkeit und Selbstbestimmung eingeschlichen, die metaphorisch bei unbelebter Materie so gar nicht funktionieren. Aber das war ein Nebeneffekt der Anthropomorphisierung von einem Gadolinium- und einem Eisenatom (alias Gedeon und Fe), mit denen sich Adelaide unterhält.

Eindeutschungen

Von den deutschsprachigen Einreichungen wurde Noam Brusilovskys autofiktionale Eindeutschungsgeschichte „Faust (Hab‘ ich nie gelesen)“ (Kritik hier) sehr wohlwollend diskutiert. Sie handelt nicht nur von der humorvollen Dekonstruktion des deutschen Kulturmythos schlechthin, sondern bezieht auch featurehafte Elemente mit ein, wie beispielsweise ein Interview mit einer hochbetagten israelischen Germanistin, die erstmals seit 1943(!) den Faust ins Hebräische übersetzt hat.

Ein halbdokumentarisches Format kam aus der Schweiz: In „Schwimmen lernen“ von Sabina Altermatt und Karin Berri geht es um die Resozialisierung von Strafgefangenen, die quasi auf dem Trockenen die Selbstständigkeit wieder lernen müssen. Hier hört man die Protagonisten in breitem schweizerdeutschen Dialekt, und das wirkt oft stärker als die heftig inszenierten Spielszenen dazwischen.

Magda Woitzuks schon erwähnte Orpheus-Variation „O Eurydike! Die Liebe höret nimmer auf“, eine Koproduktion von Südwestrundfunk (SWR) und Österreichischem Rundfunk (ORF), erzählt den Mythos auf witzige und gewitzte Weise nach. Dabei kommt nicht nur die sonst schweigende Eurydike ausführlich zu Wort, sondern auch die Frage, warum verdammt noch mal Orpheus sich umdreht, bekommt eine plausible Antwort. Anachronismen, wie eine batteriebetriebene Stirnlampe als Bezahlung für den Fährmann über den Styx, tragen zur Komik des Stückes bei, das von SWR-Dramaturgin Uta-Maria Heim als „Fassung für Kinder“ ein wenig unter Wert verkauft wurde. Natürlich ist das ein All-Age-Format, das auf verschiedenen Ebenen funktioniert.

Prix Europa 2023 Gewinner.

Bis auf wenige lobende Erwähnungen und zwei per Publikumsabstimmung ermittelte Nachwuchspreise blieben deutsche Produktionen beim Prix Europa chancenlos. Das änderte sich erst als die letzte Auszeichnung bei der Preisverleihung im Roten Rathaus, die Kategorie „Bester Europäischer TV-Film“, aufgerufen wurden. Die gewann der Debütfilm „Elaha“ von Milena Aboyan (Buch und Regie). Ihr Abschlussfilm an der Filmakademie Baden-Württemberg, produziert von Kinescope Film, Essence Film, SWR und Arte lief bereits auf der Berlinale und soll am 23. November ins Kino und 2024 ins Fernsehen kommen. Anhand der Geschichte der 22-jährigen Deutsch-Kurdin Elaha, die meint, vor ihrer Hochzeit chirurgisch ihre Jungfräulichkeit wiederherstellen zu müssen, erzählt der Film von sexueller Selbstbestimmung und dem Umgang mit kulturellen Differenzen.

Jochen Meißner – KNA Mediendienst, 02.11.2023

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