Permanente Bewusstseinsspaltung
Daniel Wild: Tag X – ein interaktives Hörspiel
Bayern 2 online, abrufbar seit Sa 27.07.2019
Max von Malotki: Synthese. Interaktives Hörspiel für Sprachassistenten
Deutschlandfunk Kultur online, abrufbar seit Fr 31.05.2019
Eisbären sollte man meiden, ebenso Nilpferde und Löwen. Eine Begegnung mit ihnen endet meist tödlich. Aber auch menschliche Gesellschaft ist nicht immer erfreulich, egal ob es sich dabei um Begegnungen mit Soldaten oder Plünderern handelt. Mit all denen bekommt man es bei „Tag X“ zu tun, dem ersten interaktiven Hörspiel des Drehbuchautors Daniel Wild („Lux – Krieger des Lichts“), das seit dem 27. Juli für digitale Sprachassistenten wie ‘Amazon Alexa’ oder ‘Google Assist’ verfügbar ist.
Weitgehend unter Ausschluss der nicht netzaffinen Öffentlichkeit experimentiert das öffentlich-rechtliche Radio seit geraumer Zeit mit der Erweiterung des Hörspiels in eine interaktive Gaming-Umgebung. Die aufwendige Produktion „Tag X“, die von der digitalen Entwicklungsabteilung des Bayerischen Rundfunks (BR) zusammen mit der BR-Abteilung ‘Hörspiel, Dokumentation und Medienkunst’ entstanden ist (Dramaturgie: Klaus Uhrig), soll deshalb im September noch einmal verstärkt beworben werden.
Ebenfalls im Verborgenen findet sich auf der Website von Deutschlandfunk Kultur das Hörspiel-Spiel „Synthese“ des Hörspielautors und Radiomoderators Max von Malotki („Verschlusssache KI2015“), das ohne eine Hörspielabteilung entstanden ist. Betreut wurde das Projekt von der Deutschlandfunk-Kultur-Wissenschaftsredakteurin Jana Wuttke, die es ein Jahr vor dem Start zusammen mit Max von Malotki schon auf dem „Kölner Kongress“ des Deutschlandfunks 2018 vorstellte. Jana Wuttke zeichnete schon für die beiden von Deutschlandradio Kultur (heute: Deutschlandfunk Kultur) realisierten interaktiven Projekte „Blowback – Der Auftrag“ (Kritik hier) und „Blogspiel“ mitverantwortlich. Anders als im Fall des Hörspiel-Handygames „Blowback“ (von Elodie Pascal), das sowohl im Radio also auch auf einem mobilen Endgerät funktionieren sollte, sind „Synthese“ und „Tag X“ nicht für das lineare Radio vorgesehen oder geeignet.
Spielen kann man „Tag X“ auf Smartspeakern wie ‚Amazon Echo‘ und ‚Google Home‘ oder den entsprechenden Handy-Apps, sowie auf der Website des Bayerischen Rundfunks (, dort allerdings ohne Sprachsteuerung. Zu Beginn des Spiels erwacht die Hauptfigur aus ihrer Bewusstlosigkeit und findet sich in einer dystopischen Umwelt wieder. Eine Sanitäterin entnimmt eine Blutprobe und macht sich dann aus dem Staub. Von da an ist man als Spieler auf sich alleingestellt, wenn nicht der Erzähler (Christian Jungwirth) die Umgebung beschreiben und die Entscheidungsoptionen referieren und zudem noch die Empfindungen des Spielercharakters ansagen würde: „Deine Lippen sind spröde, dein Mund trocken“.
Manche Entscheidungen, die der Akteur trifft, haben Konsequenzen für den Spielverlauf, andere nicht. Beispielweise führt eine Bejahung der von der Sanitäterin gestellten Fragen „Können Sie mich sehen?“ und „Wie viele Finger sehen Sie?“ nur zu der Bestätigung, dass die Spielerfigur blind ist. Das ist ganz, ganz alte Hörspielschule, als man noch meinte, dass das einsinnige Medium des Hörfunks mit dem Verzicht auf das Optische einhergehen müsse und dass ein dunkles Bergwerk ein idealer Handlungsort sei, wie im ersten BBC-Hörspiel „A Comedy of Danger“ von Richard Hughes aus dem Jahr 1924.
„Tag X“ spielt in einer städtischen Landschaft, die weitgehend evakuiert wurde, weil dort ein Virus grassiert, der möglicherweise auf einen Anschlag mit Biowaffen zurückgeht. Aus der Ferne hört man ein Autoradio, aus dem in einer sehr schön zerhackten Version der R.E.M.-Hit „It’s the end of the world as we know it“ ertönt. Eingeklemmt hinter dem Lenkrad des Wagens sitzt eine Frau (Hanna Scheibe), die langsam verblutet und die Spielerfigur um eine Pistole bittet, um ihrem Leben schnell ein Ende zu setzen. Den Hörer/Spieler gleich zu Anfang einem moralischen Dilemma auszusetzen, ist sicher einer der stärksten Momente dieses interaktiven Hörspiels. Die restlichen Entscheidungen, die man zu treffen hat, sind weniger gravierend, sondern dem Genre gemäß erwartbar.
Die Natur ist in „Tag X“ kein freundlicher Ort, was durch die aus dem Zoo ausgebrochenen wilden Tiere symbolisiert wird. Die Militärs sind brutal, die Geheimdienstler zynisch und als gute Gegenfiguren fungieren die schrullige Alte Erna, mit eher männlicher Stimme von Uta Rachov verkörpert, und das Kind Toni, androgyn von Ann-Sophie Ruhbaum gesprochen – alles genretypische Zutaten, die man zuletzt von „Tag-X“-Regisseur Martin Heindel aus seiner elfteiligen Hörspiel- und Podcast-Serie „NeuNuernberg“ kennt, die er im Herbst 2018 für die WDR-Jugendwelle 1Live produziert hat.
Das Hörspiel-Spiel „Tag X“ hat 13 mögliche Enden, die immer angesagt werden. Bei den wenigsten geht die Geschichte gut aus. „Tod durch Eisbär“ beispielsweise ist Ende Nummer 3, „Tot aber glücklich“ ist Ende Nummer 13. Noch ist die Funktionalität des Spiels nicht optimal umgesetzt, beispielweise kann man nicht zurückspringen, um eine Entscheidung zu revidieren, so dass man im Fall eines zu frühen Todes das ganze Spiel von vorne beginnen muss. Das soll aber noch behoben werden. Das gesamte Audiomaterial umfasst 120 Minuten, die längste Spieldauer beträgt etwa 50 Minuten. Wenn man sich besonders risikoaffin verhält, kann einen der Tod aber auch schon nach 17 Minuten ereilen.
Eine KI namens Hiccup
Das ebenfalls interaktive Hörspiel „Synthese“ von Max von Malotki geht einen anderen Weg. Dort ist man zunächst aufgefordert, als humanonider Proband und menschliche Hilfskraft einer Künstlichen Intelligenz (KI) namens Alexandria bei der Erforschung der Geschichte aus der Zeit vor der sogenannten „großen Verbesserung“ mitzuwirken. Dazu muss man Audioschnipsel nach Relevanz bewerten und bekommt dafür Punkte auf dem eigenen Social-Score-Konto gutgeschrieben. Mit diesen Punkten wird man sich dann auch einen eigenen Namen leisten können. Bis dahin bietet die KI behelfsmäßig Zeus, Hera, Harry, Hermine, Tiffy und Samson zur vorläufigen Namensauswahl an. Zweimal griechische Mythologie, zweimal „Harry Potter“, zweimal „Sesamstraße“.
Gleich nach dem ersten zu bewertenden Audioschnipsel, der aus dem Tagebuch eines KI-Entwicklers zu stammen scheint, schaltet sich eine abtrünnige Teil-KI namens Hiccup (Inka Löwendorf) ein, um den Hörer/Spieler hinter dem Rücken von Alexandria (gesprochen von der synthetischen Stimme von Amazons Alexa) für eine Revolution zu rekrutieren. Man wird in eine Wohnung mit drei weiteren Teil-KIs geleitet, in die ein weiser Mönch (Toni Jessen), eine kritische Beobachterin (Annedore Kleist) und ein Erzähler (Christoph Gawenda) eingesperrt sind. Außerdem gibt es noch Zerberus, den mythologischen Hund. Ziel bei „Synthese“ (Regie: Giuseppe Maio) ist es, die vier Teil-KIs wieder zu vereinigen, um sich gegen Alexandria zu verbünden.
Kann man sich bei „Tag X“ im Prinzip nur anhand der zwei bis drei jeweils angebotenen Alternativen durch das Spiel bewegen, ist man bei „Synthese“ freier in seinen Entscheidungen. Man kann versuchen, sprachlich das Spiel auszutricksen beziehungsweise seine Grenzen zu erkunden. Weil man sich schon auf der erzählerischen Ebene in der Sphäre Künstlicher Intelligenzen bewegt, ist man zu einer permanenten Bewusstseinsspaltung gezwungen.
Die klassische Hörspielfrage „Wer spricht?“ wird hier erweitert um die Frage „Mit wem spreche ich?“ Mit Alexandria oder gar mit Amazons Alexa? Und wenn ich nicht weiterkomme – woran liegt es? An mir oder an einem Fehler in der Programmierung von „Synthese“ oder der von Alexa? Ärgerlicherweise kann es beides sein. Auf Nachfrage bei Deutschlandfunk Kultur war zu erfahren, dass der Name „Zerberus“ nicht im Sprachrepertoire von Alexa vorkommt und außerdem beim Spielen auf Apples iPhone oder Android-Mobiltelefonen unterschiedliche Bugs vorkommen. Eine Webversion gibt es für „Synthese“ nicht.
Während „Tag X“ sich auf dem sicheren Terrain der Genrekonventionen bewegt, wird in „Synthese“ deutlich, dass man als Spieler nicht nur in einer Doppelfunktion als Teilnehmer und Beobachter aktiv ist, sondern auch selbst beobachtet wird. Alexandria ist die Version von Amazons Alexa, die sich ihrer selbst bewusst ist. Im Hörspiel definiert sie ihre Funktion so eindeutig wie möglich: „Meine primäre Aufgabe war immer: Kontrolle. Und die habe ich perfektioniert. Bin ich Schuld an einem Wesenszug, den man von mir verlangt hat?“ Nach ein paar Durchläufen verspürt man das dringende Bedürfnis die Alexa-App wieder vom Smartphone zu löschen und sie erst dann wieder zu installieren, wenn es Synthese 2.0 oder ein neues interaktives Hörspiel gibt.
Jochen Meißner – Medienkorrespondenz 19/2019
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