Kunstfertige Leichtigkeit
Stephan Krass/Ulrike Haage: The Moon Tapes
SWR 2, Do 12.06.2014, 22.03 bis 23.00 Uhr
Am Beginn der modernen Philosophie steht ein Traum. In der Nacht vom 10. zum 11. November 1619 träumte René Descartes von zwei Büchern. Einem Wörterbuch und einer altrömischen Gedichtsammlung, dem „Corpus Poetarum“. In dem Traum gehen die Wörter der Bücher ineinander über, vermischen sich Poesie und Wissenschaft. Die Gedichtzeile „Quod vitae sectabor iter?“ („Welchen Weg werde ich einschlagen?“) formuliert die Frage, vor die sich der wieder erwachte Descartes gestellt sah. Er entschied sich für den Weg der Philosophie, und so steht am Beginn des Rationalismus die Poesie – vielleicht ist der Rationalismus aber auch nur die Maske, hinter der der Poet Descartes auftrat. Diese Episode, benannt „Die Ankunft des Gedichts“, steht am Ende des knapp einstündigen Hörstücks „The Moon Tapes“, das der Lyriker und Hörspielautor Stephan Krass und die Komponistin und Musikerin Ulrike Haage mit dem Vokalensemble des SWR produziert haben. Es handelt sich laut Untertitel um ein „Hörstück für 24-stimmigen Chor, zwei Sprecher, einen Spoken-Word-Künstler, Flügel, Celesta und Zuspielband“.
Die Rahmenhandlung bestreiten Castor und Pollux (David Bennent und Bernhard Schütz), zwei Koalabären, die wegen ihrer empfindlichen Ohren in eine Raumkapsel gesteckt wurden, um das Geräuschinventar des Universums zu erkunden. Irgendwann hat man sie einfach vergessen. In ihren Umläufen um die Erde hören sie nun der Semantikerin und der Lakonikerin und deren beiden Chören zu. Die einen wollen der Welt ihren verborgenen Sinn entlocken, während die anderen mit ihrem Dekonstruktionsbesteck an jeder Bedeutung zweifeln. Das Leitparadigma ist ihnen verlorengegangen, was Stephan Krass in den anagrammatischen Zweizeiler „Paradigm lost/A grim old past“ verwandelt. Während die Semantiker also das Eichendorffsche Zauberwort suchen, das das Lied, was in allen Dingen schläft, zum Klingen bringt, haben die Lakoniker den Verdacht, dass schon dieses Wort nur ein MacGuffin ist – ein Gegenstand oder Dokument, das mit beliebiger Bedeutung aufgeladen ist, jedoch immer geheimnisvoll bleibt. Ein anderer MacGuffin, der im Hörspiel auch so benannt wird, ist eine kugelförmige Kapsel, in der die Koalanauten gefrorene Laute und versiegelte Geräusche aus dem All eingeschlossen haben und die sich erst bei absoluter Stille öffnet und die aufgetauten Töne hörbar macht.
Der französische Dichter Rabelais hat 200 Jahre vor Gottfried August Bürgers Münchhausen-Geschichte mit ihrem gefrorenen Posthorn diese Art der Schallaufzeichnung postuliert. 100 Jahre nach Rabelais beschrieb Savinien Cyrano de Bergerac 1650 in seinem Roman „L’autre monde“ („Die andere Welt“), der unter anderem von einer Reise zum Mond handelt, ein Buch ohne Blätter und Buchstaben, das mittels Zeigern Laute wiedergeben kann. Die Mondbewohner kommunizierten über Töne und Musik. Damit beschreibt Cyrano eine Erfindung, die erst mehr als 200 Jahre später gemacht werden sollte: die des Edison-Phonographen. Ein weiterer Grund, warum das Stück „The Moon Tapes“ und nicht etwa „Die Mondbänder“ heißen muss, hat mit dem doppelten „oo“ in „Moon“ und seiner typografischen Gestalt zu tun. Und dies sind nur einige der Entdeckungen, die man beim Hören dieser chorischen Textkomposition machen kann.
„The Moon Tapes“ ist ein Stück, für das man sein Wiedergabegerät am besten auf „Repeat“ stellt, um von Umlauf zu Umlauf immer wieder Neues zu entdecken oder einfach um die Gesänge des Vokalensembles zu genießen. Wie jedes gute Stück lässt es sich auf verschiedenen Ebenen hören, der diskursiv-philosophischen, der klanglich-lyrischen und der chorisch-musikalischen, die von Stephan Krass und Ulrike Haage mit großer Kunstfertigkeit und noch größerer Leichtigkeit arrangiert worden sind.
Jochen Meißner – Funkkorrespondenz 24/2014
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