„Keine Absicht, nur Tourette“ – Die ARD Hörspieltage 2019

Helgard Haug und Thilo Guschas

Helgard Haug und Thilo Guschas: „Chinchilla Arschloch, waswas“. Bild: SWR/Uwe Riehm.

Der Deutsche Hörspielpreis der ARD ging an das dokumentarische Hörspiel „Chinchilla Arschloch waswas“ von Helgard Haug (Rimini Protokoll) und Thilo Guschas. Die Auszeichnung wurde am 9. November bei den 16. ARD-Hörspieltagen im Zentrum für Kunst und Medien (ZKM) in Karlsruhe vergeben. Hauptfigur des preisgekrönten Stücks ist Christian Hempel, der sich mit seiner Tochter Phillis mit einem VW-Bus auf den Weg nach Sylt macht. Die Reise ist nicht ganz unproblematisch, denn das Tourette-Syndrom des Vaters macht die Kommunikation nicht immer störungsfrei: „Keine Absicht, nur Tourette“ ist die Formel, mit der sich Christian für seine unwillkürlichen Ausfälle entschuldigt.
Die Jury lobte in ihrer Begründung zur Preisvergabe, das Stück baue „eine Brücke zu allen Menschen, deren Besonderheiten nicht der Norm entsprechen“. Daneben zeige „das klug und vertrauensvoll konstruierte Hörspiel, dass es auch einen ganz anderen Umgang mit Schimpfwörtern gibt. Und tritt der bedrohlichen Zunahme von virtuellen und analogen Hassattacken damit im wahrsten Wortsinn in den Arsch.“

Die vollständige Jurybegrüundung im Wortlaut:
Der Protagonist in diesem Werk lässt sich durch viele Attribute beschreiben: Er hat Lebenslust und Humor, er ist kreativ und mutig, er liebt seine Familie. Er tickt genauso wie viele andere. Ihm dabei zuzuhören, wie er sich die Welt, die Gemeinschaft erschließt, wie er seinen Platz einfordert, ist ein großer Spaß. Und baut eine Brücke zu allen Menschen, deren Besonderheiten nicht der Norm entsprechen, einer Norm, die längst abgeschafft gehört. Daneben zeigt das klug und vertrauensvoll konstruierte Hörspiel, dass es auch einen ganz anderen Umgang mit Schimpfwörtern gibt. Und tritt der bedrohlichen Zunahme von virtuellen und analogen Hassattacken damit im wahrsten Wortsinn in den Arsch.

ARD Hoerspieltage 2019 Jurysitzung

Die Jury: Milena Fessmann, Lamya Kaddor, Jenni Zylka, Jenny Schily, Maryam Zaree Bild: SWR/Niko Neithardt.

Der Deutsche Hörspielpreis der ARD ist mit 5000 Euro dotiert und mit einer Ausstrahlung in sämtlichen deutschsprachigen Kulturradios verbunden. Inklusive der Wiederholungshonorare ist der Deutsche Hörspielpreis der ARD damit der bestdotierte Preis des Genres im deutschsprachigen Raum. Die Auszeichnung für „Chinchilla Arschloch waswas“ – der Titel zitiert einen Tourettebedingten Ausspruch von Vater Christian – wurde von einer fünfköpfigen, rein weiblich besetzten Jury vergeben. Das Gewinnerstück ist eine Produktion des Westdeutschen Rundfunks (WDR), der dieses Jahr auch die Federführung der ARD-Hörspieltage innehatte. Mitglieder der Jury waren die Autorin und Kulturjournalistin Jenni Zylka (Vorsitzende), die Musikberaterin Milena Fessmann, die Islamwissenschaftlerin Lamya Kaddor, die Schauspielerin Jenny Schily sowie die Schauspielerin und Regisseurin Maryam Zaree.

ARD Hoerspieltage 2019 Nicole Heesters

Nicole Heesters Bild: SWR/Stefan Odry.

Die Jury vergab außerdem noch den mit 3000 Euro dotierten Preis für die beste schauspielerische Leistung in einem Hörspiel an die 82-jährige Schauspielerin Nicole Heesters für ihre Rolle in dem Hörspiel „Die Jahre“, das auf dem Roman der französischen Autorin Annie Ernaux beruht. Zentral für dieses Stück unter der Regie von Luise Voigt und mit der Komposition von Björn SC Deigner ist das Zusammenspiel des vierköpfigen Ensembles, dem neben Nicole Heesters auch Birte Schnöink, Constanze Becker und Corinna Harfouch angehörten (Kritik hier). Erzählt wird eine kollektive Frauen-Biografie aus der Perspektive des „man“ (französisch „on“). Insofern ist die Entscheidung für lediglich eine dieser vier Stimmen nicht ganz unproblematisch.

Eine lobende Erwähnung der Jury gab es für Michael Kessler für seine Rolle des an Karl Lagerfeld angelehnten Charakters KL in John von Düffels für Radio Bremen produziertes Dramolett „KL – Gespräch über die Unsterblichkeit“ (Kritik hier).

ARD Hoerspieltage 2019 Michael Stauffer

Michael Stauffer: „Die dritte Arbeitskraft, mein Geld“. Bild: SWR/Uwe Riehm.

Der mit 2500 Euro dotierte Publikumspreis ging an das von der Jury in ihrer öffentlichen Diskussion mehrheitlich abgelehnte Stück „Die dritte Arbeitskraft, mein Geld“ des Schweizer Autors Michael Stauffer. In seinem „Lehrstück gegen die selbstverschuldete Unmündigkeit in Finanzfragen“, eine Produktion des Schweizer Rundfunks SRF (Regie: Mark Ginzler), spielt Stauffer selbst eine Figur, die die Kontrolle über ihr Geld gegen den Staat und Banken selbst übernehmen will. Michael Stauffer stellt in seinem Stück eine Frage neu, die Wolf Lotter, Wirtschaftsjournalist beim Magazin „Brand Eins“, schon 2004 in Stefan Weigls kriegsblindenpreisgekröntem Stück „Stripped ein Leben in Kontoauszügen“ (vgl. FK 22/04), gestellt hatte: „Was heißt es eigentlich, nicht gelernt zu haben, mit Ökonomie umzugehen? Was heißt es eigentlich, sich ständig Kräften auszusetzen, die man nicht versteht?“

ARD Hoerspieltage_2019 Simone Halder

Simone Halder: „Chewing Gum makes a Demon really happy“. Bild: SWR/Uwe Riehm.

Der mit 1000 Euro dotierte „PiNball“-Preis für frei produzierte Stücke (früherer Preisname: „Premiere im Netz“) ging an die halbdokumentarische Satire „Chewing Gum makes a Demon really happy“ von Ronaldas Obukas und Simone Halder über den Internet-Guru Chris La Sala, der auch Teufelsaustreibungen online anbietet.

 

 

 

 

ARD Hoerspieltage 2019 Robert Schoen

Robert Schoen (Regie): „Kicheritis“. Bild: SWR/Uwe Riehm.

Der ebenfalls im Rahmen der ARD-Hörspieltage vergebene Deutsche Kinderhörspielpreis ging an das Abschiebungsdrama „Eineinhalb Wunder und ein Spatz“ von Angela Gerrits (Regie: Hans Helge Otte, Produktion: HR/Deutschlandfunk Kultur), die den Preis schon 2017 für ihr Stück „Die Nanny-App“ bekommen hatte. Der Preis ist mit 5000 Euro dotiert. Der Kinderhörspielpreis der Stadt Karlsruhe ging an „Kicheritis“ (HR/WDR), ein Stück der britischen Ärztin und Kinderbuchautorin Gwen Lowe (Bearbeitung und Regie: Robert Schoen). Dieser Preis ist mit 2000 Euro dotiert und wird von einer Kinderjury vergeben.

Zum Abschluss widmeten sich die ARD-Hörspieltage unter dem Motto „Frauen im Ausschnitt“ der Frage, wie weiblich der Kulturbetrieb ist. Im Hörspiel sind die Dramaturgien in den öffentlich-rechtlichen Funkhäusern mehrheitlich mit Frauen besetzt. Beim WDR als Ausrichter der diesjährigen Karlsruher Hörspieltage gibt es übrigens gar keine fest angestellten Dramaturgen mehr, sondern nur noch einige freie. Dennoch liegt die Quote der produzierten Stücke bei 4:1 zugunsten der Männer. Das erschien den Teilnehmerinnen der abschließenden Podiumsdiskussion als zu wenig, weshalb in den sogenannten „Karlsruher Postulaten“ eine weitere Frauenförderung angemahnt wurde. Alle Jury-Diskussionen wie auch das Rahmenprogramm der ARD-Hörspieltage 2019 kann man in der ARD-Audiothek nachhören.

Jochen Meißner – Medienkorrespondenz  24/2019

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