Kein Fortschritt, nirgends

Marc Behrens: Progress

Deutschlandradio Kultur, Fr 06.09.2113, 0.05 bis 1.00 Uhr

Warum nennt der Sound Artist und bildende Künstler Marc Behrens sein neues Hörspiel „Progress“? War das nicht mal eine Staubsaugermarke? In der Tat platzieren diverse Suchmaschinen den Haushaltsgerätehersteller unter die ersten drei Ergebnisse, neben dem Monopolfilmverleih der ehemaligen DDR und den entsprechenden „Wikipedia“-Eintrag. In Letzterem erfährt man, dass Progress auch noch ein unbemannter russischer Raumtransporter sowie eine sowjetische Forschungsstation in der Antarktis war. Aber wann hat man zum letzten Mal das Adjektiv „progressiv“ gehört? Es ist Teil einer vergangenen Epoche, als es noch selbsternannte „fortschrittliche Kräfte“ gab, die sich als Sieger der Geschichte verstanden.

Dies aber hat nur indirekt mit dem 52-minütigen Hörspiel zu tun, denn das leitet seine Herkunft vom französischen Wort „progrès“ her, was eigentlich auch nur „Fortschritt“ bedeutet, hier aber als „das Fortschreiten von Generation zu Generation“ verstanden werden soll. Marc Behrens, so verrät es der Pressetext des Deutschlandradios zu dem Hörspiel, hinterfrage das Konzept des Fortschritts in geschichtlicher, genealogischer und technischer Natur: „Das eigentliche, beinahe magische Potenzial der Geschichte liegt nicht in ihrem Verlauf, sondern in der produktiven Verschränkung von Zeitschichten im Hier und Jetzt.“ Behrens bezieht sich außerdem auf Walter Benjamin, der empfahl, sich der eigenen verschütteten Vergangenheit zu nähern, „wie ein Mann, der gräbt“.

Doch im Gegensatz zu diesem Anspruch, sich durch die Schichten des Magischen zu graben, präsentiert Marc Behrens ein ziemlich lineares Fortschreiten durch die Geschichte seiner Vorfahren, deren wechselnde Wohnorte er im Verlauf der Recherche zu diesem Stück besucht hat. Field Recordings aus diesen Orten, zum Beispiel das Rauschen von Wasserleitungen, tauchen in reiner oder bearbeiteter Form immer wieder im Hörspiel auf.

Die Familiengeschichte beginnt im Jahr 1869, dem Geburtsjahr des Urgroßvaters väterlicherseits, eines Arbeiters, der kurz nach seiner Hochzeit und noch vor der Geburt seines Sohnes stirbt, und endet mit dem Jahr 2013. Die Liste der Jahre wird Zahl für Zahl abgearbeitet, mal stehen sie für sich, wie zum Beispiel die Jahreszahlen von 1914 bis 1918, die nur von abstrakt illustrativen Geräuschen begleitet werden, mal werden sie mit familiären oder historischen Ereignissen verknüpft, wie dem Ausbruch des Vulkans Krakatau mit „dem bis dahin lautesten Explosionsgeräusch der menschlichen Überlieferung“. Die Entwicklung von Funk- und Fernmeldewesen kommt am Rande vor, und zwar in Vorbereitung auf die Erzählung vom Vater, der als Ingenieur beim Fernmeldetechnischen Zentralamt der Deutschen Bundespost in Darmstadt beschäftigt war. Was er da genau gemacht hat, bleibt im Hörspiel merkwürdig unscharf. Es scheint etwas mit Überwachung und Gegenspionage zu tun gehabt zu haben. Aus dem Produktionsblatt des Stücks erfährt man, dass er die Abhöranlagen an der deutsch-deutschen Grenze gewartet hat. Der Vater, ein Geheimnisträger mit einer Waffe, ein Agent der Konterrevolution gegen die „fortschrittlichen Kräfte“ jenseits des Eisernen Vorhangs?

Doch diese Unterströmung von Geschichte muss man sich als Hörer erst mühsam erschließen, wenn man der angenehmen Stimme des Autors lauscht, der die Daten und Fakten seiner Familiengeschichte aneinanderreiht und nur äußerst selten übereinanderschichtet beziehungsweise sich durch sie hindurchgräbt, wie es das Motto von Walter Benjamin suggeriert hatte. Das für einen Sound-Art-Sendeplatz erstaunlich sprachlastige Stück fällt in der Realisation leider hinter den selbstgestellten Anspruch zurück und überzeugt nur punktuell, zum Beispiel mit dem durchkomponierten Remix einer Telefonwarteschleife.

Kurz vor Schluss (etwa bei Minute 50) gibt der Autor noch einen Hinweis zur Entschlüsselung seines Hörspiels: Er verweist auf seine Lektüre des Buchs „Psicomagia“ des stark vom Surrealismus beeinflussten chilenischen Autors, Filmemachers und Comic-Autors Alejandro Jodorowsky. Doch da ist es für ein neues Hörmodell längst zu spät. Die Familiengeschichte, die das Hörspiel erzählt, ist soweit sedimentiert, dass allein die Daten ihre Spuren hinterlassen haben und zu einer Hommage an den 2009 verstorbenen Vater führen. Fortschritt oder Progress sind angesichts von Sterblichkeit und Tod Kategorien, die nicht wirklich etwas besagen.

Jochen Meißner – Funkkorrespondenz 37/2013

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