Harte Worte
Ivana Sajko: Das sind nicht wir, das ist nur Glas
WDR 3, Mo 21.01.2013, 23.05 bis 23.55 Uhr / WDR 1Live, Di 22.01.2013, 23.00 bis 23.50 Uhr
Der arme Mensch ist dumm, weil er nicht an das eigene Wohl denkt, weil er alles wiederholt, was man ihm sagt, und weil er durch seine Stumpfsinnigkeit den sozialen Frieden aufrechterhält. Deshalb sollte man ihm danken, denn: „Er verreckt zum Wohl der Gemeinschaft, unbezahlt, ein Idiot.“ Das sind harte Worte. Sie stammen von der 1975 in Zagreb geborenen Dramatikerin und Regisseurin Ivana Sajko. Ihr knapp 50-minütiges Hörspiel „Das sind nicht wir, das ist nur Glas“ (aus dem Kroatischen übersetzt von Alida Bremer) handelt von dem, was die beiden Hörspielreihen „B(L)ANK“ und „Ende“, die der WDR im letzten Jahr ins Programm gehoben hat, verbindet: der Welt nach dem Gelduntergang: „Die Wirtschaft ist zusammengestürzt wie eine Reihe Dominosteine. Mit derselben Mechanik und Geschwindigkeit.“
Doch anders als die großen Erzählungen von der Apokalypse, die sich in überkommenen narrativen Strukturen bewegen und damit systemstabilisierend wirken, bedient Sajkos Text keine geschlossene Form, sondern entfaltet eine chaostheoretisch inspirierte Weltsicht. Jener berühmte Schmetterling, dessen unbedachter Flügelschlag am anderen Ende der Welt einen Tornado auslösen kann, zieht sich als Motiv durch das ganze Stück. In etwa so hat man sich die vielbeschworene „Rationalität der Märkte“ vorzustellen.
Bevölkert wird Sajkos Text von denen, die die Soziologie als Modernisierungsverlierer bezeichnet. Jene „Idioten“, die ihre Kinder schlagen, weil nur Prügel deren Appetit verringern können, denn „Kinder haben keinen Preis, sie bringen keinen Gewinn, sondern nur das Familienbudget in Gefahr“. Doch auch die Kinder, die eine nur subkutan verstandene neoliberale Ideologie wortwörtlich eingeprügelt bekommen, wissen um ihren Stellenwert und formulieren grimmig: „Wir sind die Zukunft dieses Landes, das Loch im Haushalt und der erschwerende Umstand in der langen Reihe verfehlter Investitionen.“ Und doch bestehen sie darauf, erwachsen zu werden, und sehen ihr Rollenmodell in Bonnie und Clyde – das zweite durchgehende Motiv, das dieses Hörspiel rahmt. Raubend und mordend zieht das Gangsterpärchen durch die Lande und zerstört mit seinen Maschinengewehren die Spiegelungen seiner Ärmlichkeit in den Schaufensterscheiben: Das sind nicht wir, das ist nur Glas. Und doch werden die beiden es sein, die am Ende von Kugeln durchsiebt werden.
Auf einen durchgängigen Plot kann der wütende Text von Ivana Sajko ebenso verzichten wie auf individuelle Figurenzeichnung. Ein „Ich“ kennt weder das Elternpaar (gesprochen von Sebastian Rudolph und Yvon Jansen) noch die Kinderschar, die der Schweizer Regisseur Erik Altorfer als Kollektiv inszeniert, ohne sich dabei eines infantilen Realismus zu bedienen. Ähnlich sind Altorfer und sein Komponist Martin Schütz schon in ihrer Inszenierung von Tim Etchells’ Hörspiel „That Night Follows Day“ (vgl. Kritik in FK 43/08) vorgegangen. Durch das vorliegenden Stück führen zwei Erzähler, nämlich André Jung und, endlich einmal wieder in einem Hörspiel dabei, Libgart Schwarz. Sie beobachten und kommentieren ein Milieu, das „fleißig am eigenen Selbstmord arbeitet, weil man ihm keine andere Arbeit gibt“, und das insgeheim hofft, „dass der Lungenkrebs vor der Zwangsversteigerung zuschlagen wird“. Nicht nur diese Hoffnung wird enttäuscht werden.
Jochen Meißner – Funkkorrespondenz 04/2013
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