Genauigkeit und Gemurmel
Lyrisch, chorisch, kompositorisch: Ein Rückblick auf das Hörspieljahr 2014
Als am 28. Februar im Literaturhaus von Frankfurt am Main die SR-Produktion „Ickelsamers Alphabet“ des von Katharina Bihler und Stefan Scheib gebildeten Liquid Penguin Ensembles als Hörspiel des Jahres ausgezeichnet wurde (Laudatio hier), lobte die Schauspielerin Victoria Trauttmansdorff als Mitglied der Jury die Vielfalt und die Ausdruckskraft der Stimme(n) im Hörspiel. Sie bezog sich dabei auf einzelne Stimmen verschiedener Schauspieler. Doch kaum ein Jahr war so gespickt mit herausragenden chorischen Kunstwerken wie das Hörspieljahr 2014. Und neben dem Chorischen gab es noch ein anderes Phänomen, das ähnlich auffällig war: die radiophone Inszenierung von Lyrik.
Das Hörspieljahr 2014 begann am 1. Januar auf Deutschlandradio Kultur nahezu programmatisch mit der herausragenden Lyrikadaption „Arabische Apokalypse“ (vgl. FK 3/14) nach einem Gedichtzyklus der mittlerweile 90-jährigen libanesischen Schriftstellerin und Malerin Etel Adnan. Über dem 1980 zuerst auf Französisch erschienenen Text (deutsche Übersetzung: Ulrike Stolz) brennt eine Sonne in „irrwitzigem Gelb“ (oder in anderen Farben). Eine Sonne, „tätowiert mit Sünden – Sonnensünden“, eine „Sonnensonne nächtens strömend bestialisch cholerisch und gelb so gelb“. Farblos ist in diesem Stück nur das Blut in den Folterkammern. Die Apokalypse, die Etel Adnan beschreibt, findet im Nahen Osten seit Jahrzehnten statt und sie beschleunigt sich. In Teil XXXIX dieses Lyrikzyklus heißt es:
„Wenn die Lebenden auf den Körpern der Toten verrotten / zieht die Menschenflut weiter / Wenn die Zähne der Kämpfer zu Messern werden / zieht die Menschenflut weiter / Wenn die Worte ihre Bedeutung verlieren und nach Arsen schmecken / zieht die Menschenflut weiter / Wenn die Nägel der Angreifer zu Klauen werden / zieht die Menschenflut weiter / Wenn die alten Freunde eilen um beim Gemetzel dabei zu sein / zieht die Menschenflut weiter / Wenn die Augen der Sieger zu gezündeten Granaten werden / zieht die Menschenflut weiter / Wenn die Geistlichen zum Hammer greifen und kreuzigen / zieht die Menschenflut weiter.“
Leider kann man diese Zeilen nicht einfach dem Genre der Dystopie zurechnen, denn sie sind eine präzise Vorwegnahme jener Barbarei, derer sich gegenwärtig die islamistischen Terroristen nicht schämen, sondern mit der sie offensiv Propaganda betreiben – unter einer Sonne, die „nur noch als Totenhemd dient“. Was das Stück so atemberaubend macht, ist nicht nur die Bildgewalt, mit der das Motiv der Sonne die knapp 67 Minuten des Hörspiels dominiert, sondern auch die kompositorische Umsetzung durch das Duo 48nord (Siegfried Rössert und Ulrich Müller), das mit Glocken, Perkussion und Elektronik dem Text eine irisierende Klangform gegeben hat.
Gegen den Gestus der Überwältigung, der spekulative apokalyptische Erzählungen schnell zum Kippen bringen kann, steht zweierlei: die genaue Verortung des Textes im libanesischen Bürgerkrieg und die erfahrungsgesättigte Stimme von Etel Adnan, die auf die Stimmen von Tatja Seibt, Cristin König und Meriam Abbas trifft. Pathos braucht es hier nicht, nur eine präzise Diktion, die Platz lässt für die Rhythmik des Textes und seine musikalische Gestaltung. Die Kunstfertigkeit der „Arabischen Apokalypse“ erkennt man unter anderem daran, wie voraussetzungslos sie funktioniert und wie viele Sinn-Ebenen man entdecken kann, wenn man sich mit ihren Hintergründen befasst.
Die Stimmen von Etel Adnan und Ilse Aichinger
Leider gab es für Etel Adnans Hörspiel bislang keine Auszeichnung, anders als für das Stück „Nach dem Verschwinden – Ein fiktiver Dialog mit Ilse Aichinger“ (RBB) von Christine Nagel, das Hörspiel des Monats Juni wurde. Das Stück arbeitet ebenfalls mit der Stimme der Autorin, der also von Ilse Aichinger, die 1921 geboren wurde und somit noch vier Jahre älter ist als Etel Adnan. Christine Nagel habe sich „mit radiophonen Einfällen und sprachlichen Bildern dem enigmatischen Wesen und der Poesie Ilse Aichingers“ genähert, so die Hörspiel-des-Monats-Jury in ihrer Begründung. Trotz der Nähe der Autorin zu der von ihr porträtierten Lyrikerin und Hörspielautorin, ist „Nach dem Verschwinden“ eine Produktion, bei der ein gewisses Vorwissen um das Werk und die Bedeutung Ilse Aichingers nicht schadet – was für ein Kunstwerk natürlich ein völlig legitimer Anspruch ist.
Die dritte Autorenstimme, die im lyrischen Hörspiel des Jahres 2014 zu hören war, war die des australischen Dichters Les Murray in der SWR-Produktion „Bunyah“ von Cathy Milliken und Dietmar Wiesner (vgl. FK 28/14). Ihre radiophone Umsetzung von Murrays Texten mit den Stimmen von Dagmar Manzel, Ulrich Noethen und Felix von Manteuffel beeindruckte die Jury bei der Wahl zum Hörspiel des Monats Juli durch „überbordende Bildkaskaden in tief gestaffelten Klang- und Echoräumen“.
Am Leben gelassen werden
Auch eine authentische Stimme, nämlich die von Maria-Cristina Hallwachs, bestimmt das Hörspiel des Monats März, das WDR-Stück „Qualitätskontrolle oder Warum ich die Räuspertaste nicht drücken werde!“ von Helgard Haug und Daniel Wetzel (vgl. FK 13/14). Als eine, die nach ihrem Genickbruch nur noch mit Hilfe von Apparaten überleben konnte, sprach Maria-Cristina in nicht immer authentischen, aber immer präzise durchkonstruierten Sätzen über die fehlende Selbstverständlichkeit, am Leben gelassen zu werden. „Ich habe die Ethikkommission überlebt“, kommentiert sie die von dem Krankenhaus-Gremium an sie herangetragene Zumutung, selbst über ihren Tod zu entscheiden.
O-Töne eines Nazi-Schlächters und Geheimdienstmannes dominierten das dokumentarische Hörspielfeature „Klaus Barbie – Begegnung mit dem Bösen“ (WDR) von Peter F. Müller, Leonhard Koppelmann und Michael Müller; das Stück wurde zum Hörspiel des Monats Mai gewählt. Leonhard Koppelmann war es auch, der thematisch an Etel Adnans Text anschloss, und zwar mit seiner Hörspielinszenierung von Elfriede Jelineks gattungsmäßig kaum einzuordnenden Text „Die Schutzbefohlenen“ (vgl. FK 7/14).
In dieser BR-Produktion ging es um die „Menschenflut“, die sich der Barbarei in ihren Heimatländern durch Flucht über das Meer zu entziehen versucht. Die Flüchtlinge haben Handyvideos zum Beweis der Gräueltaten, denen sie ausgesetzt waren. Doch reagiert wird seitens der europäischen Institutionen nur auf die Bilder ihres Ertrinkens, weil das sich in Sichtweite der Insel Lampedusa abgespielt hat. Im Wechsel von Einzelstimmen und Sprechchören entfaltet der „sprechende Zug ins Nichts“ der Schutzbefohlenen seine politische Brisanz. Das funktioniert wesentlich anders als die scheinbare Vielstimmigkeit religiöser Parallelgesellschaften in Björn Bickers Hörspiel „Urban Prayers“ (BR).
Buchstaben, Laute und gefrorene Töne
Wie man maximale Vielstimmigkeit und chorische Polyphonie bei minimalem Texteinsatz verwirklicht, hat Grace Yoon mit ihrer Fassung von Dieter Roths „langweiligstem Theaterstück der Welt“ gezeigt, es heißt „Murmel“ (vgl. FK 15/14). Der Text besteht ausschließlich aus der titelgebenden Lautverbindung, die nicht die kleine Glaskugel bezeichnet, sondern einen Sprechakt, bei dem es nicht in erster Linie um Verständlichkeit geht – das Murmeln. Zwei Silben, die die Welt bedeuten und sich zu einem höchst unterhaltsamen Stück zusammenfügen lassen.
Wie sich aus Buchstaben, Lauten und eingefrorenen Tönen das Gedicht als die feinste literarische Form erhebt, konnte man in „The Moon Tapes“ (SWR) hören, einem Stück für 24-stimmigen Chor, verfasst von Stephan Krass und musikalisch gestaltet von Ulrike Haage (vgl. FK 24/14). Krass, als Anagramm-Lyriker mit dem Basismaterial der geschriebenen Sprache, den Buchstaben, bestens vertraut, verdreht „Paradigm lost“ zu „A grim old past“. Er verbindet seine Lyrik mit einem überreichen Fundus aus literaturgeschichtlichen und popkulturellen Referenzen, die sich von Rabelais über Cyrano de Bergerac bis zum Kinofilm „21 Gramm“ erstrecken. „The Moon Tapes“ ist zweifellos eines der gebildetsten Hörspiel des letzten Jahres – ebenso voraussetzungsreich wie unterhaltsam und von Ulrike Haage mit einer Leichtigkeit für das SWR-Vokalensemble arrangiert, dass man es in Dauerschleife genießen kann.
Ein Hörspiel, das sendeplatztechnisch eigentlich gar kein Hörspiel war, weil es live auf den Donaueschinger Musiktagen aufgeführt wurde und außerdem vom Autor Michael Lentz mit der Gattungsbezeichnung „Sprechplastik“ versehen wurde, war „Hotel zur Ewigen Lampe – operative Vorgänge“, live übertragen von SWR 2 (vgl. FK 43/14). „Operative Vorgänge“ waren im Stasi-Jargon der DDR Maßnahmen zur „Zersetzung“ von Personen. Lentz operierte mit der Dekonstruktion der Äußerungen von Stasi-Chef Erich Mielke, indem er sie „durch den anagrammatischen Fleischwolf“ drehte. Das Verb „desorganisieren“ wurde so zu einem mehrstrophigen Anagrammgedicht. Zu der von Lentz hier praktizierten Form der Lyrik passt kein Gesang, sondern nur das synchrone Unisono von Sprechchören in der Tradition von Einar Schleef.
War sonst noch was? Anfang vorigen Jahres freute Thomas Kleist, der Intendant des Saarländischen Rundfunks (SR), dass durch eine verstärkte Zusammenarbeit mit dem Deutschlandfunk im Hörspiel „kostenintensive Investitionen in die Technik“ vermieden werden könnten, während im Gegenzug Deutschlandradio-Intendant Willi Steul „das Tafelsilber Hörspiel qualitativ gestärkt sah“. Der RBB stellt mit Heft Nr. 1 von 2015 seine Hörspielbroschüre ein, streicht den Kurzhörspieltermin und fördert damit die Marginalisierung seines Kulturauftrags.
Und das Positive? Barbara Schäfer ist vom „Nachststudio“ des Bayerischen Rundfunk als Leiterin der neuen Abteilung Hörspiel und Hintergrund Kultur zum Detuschlandfunk gewechselt und Sabine Küchler hat dort als Chefin der Hörspielabteilung die Nachfolge von Elisabeth Panknin angetreten. Ulrike Toma übernahm beim Norddeutschen Rundfunk (NDR) als Leiterin der neuen Abteilung „Radiokunst“ die Nachfolge von Norbert Schaeffer. Außerdem ist die Hörspieldatenbank des Deutschen Rundfunkarchivs als „ARD-Hörspieldatenbank“ wieder online und inzwischen ein sehr brauchbares Rechercheinstrument geworden – unter anderem weist sie jetzt auch Hörspielkritiken nach.
Jochen Meißner – Medienkorrespondenz 6/2015
Schreibe einen Kommentar