Erzählerisch-theoretisches Kunstwerk
Thomas Weber / Volker Zander: Ovale Fenster. Ein Hirnwettlauf im Allerhörbarsten
Hörstück mit Texten von Dietmar Dath und Hermann von Helmholtz
SWR 2, Di 03.04.12, 23.03 bis 23.58 Uhr
Noch während der liebe Gott sich die Turnschuhe zuschnürt, hechtet Hermann von Helmholtz mit einem beherzten Sprung durch das ovale Fenster seines rechten Ohres und springt so in seinen eigenen Kopf. Er will den Wettlauf zu dem Kostbarsten, was sein Hirn zu bieten hat, unbedingt gewinnen. Denn, genervt von Gott, der beim Sonntagstee immer an allem herumnörgelt, was Helmholtz zu sagen hat, will er beweisen, dass er es ist, der sein Hirn am allerbesten kennt, „egal, wer es geschaffen hat, wem es gehört, wer es benutzt und wozu.“ Doch der Wettlauf in Helmholtz’ Hirn ist nur der Aufhänger für Dietmar Daths phantastische Geschichte über das Verhältnis von Physiologie und Psychologie des Hörens, die er extra für dieses Hörspiel geschrieben hat. Es ist nicht seine erste Zusammenarbeit mit den Musikern vom Kammerflimmer Kollektief um Thomas Weber. Schon mit „Im erwachten Garten“ – einer Geschichte aus dem Universum von Daths Roman „Die Abschaffung der Arten“ (vgl. FK 14/11) – haben sie ein Hörbuch herausgebracht.
Die titelgebenden „Ovalen Fenster“ von Thomas Webers und Volker Zanders 55-minütigem Hörstück sind eigentlich keine zu öffnenden Fenster, sondern Membranen, die das Mittelohr vom Innenohr trennen und zusammen jeweils mit dem Steigbügel als Verstärkerelemente dienen. Die Sinnesphysiologie des Ohres war eines der Forschungsgebiete, auf denen Hermann von Helmholtz (1821 bis 1895) arbeitete. Am bekanntesten ist er jedoch für die Formulierung des Energie-Erhaltungssatzes, dem zufolge die Gesamtenergie in einem abgeschlossenen System konstant bleibt. Es ist ein Satz, den der durchaus nicht unproblematische amerikanische Science-Fiction-Autor Robert A. Heinlein – der im Kosmos des Dietmar Dath eine ähnliche Stelle einnimmt wie Karl May in dem Arno Schmidts – so nicht stehen lassen wollte. Er vertrat stattdessen die These, dass sich psychische Energien auf mysteriöse Weise vermehren ließen: „The more you love, the more you can love“, so lautet Heinleins Mantra, das das Kammerflimmer Kollektief zu einem wunderschönen Song inspiriert hat.
Auf dem Weg zum Kostbarsten in seinem Hirn kommt Helmholtz an einer feuchten und dunklen Kaverne vorbei, „die sich bald als ein von längerer Unaufmerksamkeit ausgehöhlter Komplex äußerst grundlegender Überlegungen entpuppte“, der überwiegend in Frageform organisiert ist, zum Beispiel: „Was stellen sich Muscheln unter Tänzen vor?“ Oder: „Wieso ist die Filmmusik zu dieser einen japanischen Radio-Screwball-Komödie so viel besser als der teure Imponierdreck, der das Getue und Gemache der karibischen Seeräuber im Cinemaxx begleitet?“ Oder: „Ist die Oktave eigentlich verliebt, und wenn ja, in was?“
Als Helmholtz diesen Fragenkomplex verlässt, findet er sich in einer „erzlinear organisierten Trostlosigkeit wieder, die als Datenautobahn zu erkennen er sich entschlossen weigerte, weil er weder bereit war, zu begreifen, was Daten waren, noch, zu verstehen, was man sich unter einer Autobahn denken sollte“. In seinen besten Momenten gelingt es Dath mit einfachen Mitteln und viel Humor, die Differenzen (natur)wissenschaftlicher Diskurse zu markieren.
Angekommen beim Kostbarsten in Helmholtz’ Hirn entdecken er und der liebe Gott inmitten eines Stimmgabelwäldchens, durch das „Silberfäden aus scheinbar über jeden Zweifel erhabenen Eindeutigkeiten gespannt waren“ – eine Frau: Diana Deutsch. Die inzwischen 74-jährige Musikpsychologin, eine Nachfolgerin Helmholtz’, erforscht akustische Illusionen und Paradoxien und löst damit die Eindeutigkeiten von messbaren Frequenzen und wahrgenommenen Tonhöhen auf. Beispielhaft hörbar gemacht wird das anhand des sogenannten Shepard-Risset-Glissandos, das eine scheinbar unendlich aufsteigende oder abfallende Tonleiter formt.
Die O-Töne von Diana Deutsch, die Texte von Hermann von Helmholtz (gesprochen von Gertrud Heise) und die Geschichte von Dietmar Dath (erzählt von Christian Brückner) ergeben zusammen mit den flirrenden Sounds des Kammerflimmer Kollektiefs eine so überzeugende Mischung, dass man gerne über die bisweilen unnötig verschachtelten Sätze Daths hinweghört – an denen sich auch ein Christian Brückner manchmal die Zähne ausgebissen hat. Da erträgt man selbst die Prätentionen und „Schummrigkeiten“ gerne, von denen Daths Texte nie ganz frei sind, beweist der Autor doch ein gewisses Maß an Selbstironie, nämlich als er unterstellt, dass eben solche „Schummrigkeiten“ von Helmholtz – „ganz ein Mann des 19. Jahrhunderts“ – nach Kräften unterdrückt worden seien. Insgesamt ist Thomas Weber und Volker Zander ein erzählerisch-theoretisches Kunstwerk gelungen, das man so selbst auf dem monatlichen „Ars-acustica“-Termin von SWR 2 nicht erwartet hätte.
Jochen Meißner – Funkkorrespondenz 16/2012
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