Eilande im Hallraum
Judith Schalansky / Thom Luz: Atlas der abgelegenen Inseln
WDR 3, Mi 13.01.2016, 19.05 bis 20.00 Uhr /
SRF 2, 16.12.2015, 20.00 bis 20.55 Uhr
Geboren wurde Judith Schalansky 1980 in einem Land, in dessen Mitte eine Insel lag. Ein weißer, kartographisch nicht erfasster Fleck: West-Berlin. Sie sei ein „Atlas-Kind“ gewesen, schreibt die Schriftstellerin und Buchgestalterin im Vorwort zu ihrer 2009 erschienenen Geschichtensammlung „Atlas der abgelegenen Inseln“, in dem insgesamt 50 Inseln vorgestellt werden. Pro Insel gibt es eine Doppelseite: rechts ein kartographisches Abbild des Eilandes, in Grauwerten mit orangenen Akzenten auf blauem Grund, und links daneben ein erzählerischer Text. Dazu die Geodaten, die Entfernungen zu den nächsten Inseln oder Kontinenten, eine Zeitleiste und darüber ein kleine Weltkugel, auf der die Insel im Zentrum steht und die Kontinente nach außen weglappen. „Die zweidimensionale Weltkarte ist ein Kompromiss, der die Kartographie zu einer Kunst zwischen ungehörig vereinfachender Abstraktion und ästhetischer Weltaneignung werden ließ“, so beschreibt Schalansky ihre Ausgangssituation.
Der Zürcher Regisseur und Musiker Thom Luz hat dieses die Abbildungsverhältnisse sorgfältig reflektierende Buch 2014 im Treppenhaus der Cumberlandschen Galerie des Schauspiels Hannover inszeniert, was ihm eine Einladung zum Berliner Theatertreffen eingebracht hat. Jetzt hat er seine szenisch-musikalische Fassung für den Schweizer Rundfunk SRF in Koproduktion mit dem Westdeutschen Rundfunk (WDR) als Hörspiel umgesetzt (hier nachhörbar und hier herunterladbar). Im Radioprogramm SRF 2 Kultur war das Stück am 16. Dezember vorigen Jahres zu hören, bei WDR 3 wurde es nun knapp einen Monat später ausgestrahlt.
Seine Herkunft vom Theater hört man der Produktion an manchen Stellen an. Denn wenn man eines nicht erwartet, dann, dass Inseln auf offenem Meer einen Hallraum haben. Doch auch die Herkunft vom Buch macht Thom Luz deutlich – durch Geräusche des Umblätterns und phasenweise durch den typischen Vorleseton des gut aufgelegten Sprecher-Ensembles (Beatrice Frey, Günther Harder, Sophie Krauss, Oscar Olivo). Die Angaben der Längen- und Breitengrade werden als Meldungen über knisternden Kurzwellenfunk abgesetzt. Denn schwer erreichbar sind die Inseln selbst über den Äther.
Der Einsatz einer Posaune, die wie ein Alphorn klingt, das wie ein Nebelhorn klingt, gehört zu den ironischen Ideen der akustischen Transformation vom Buch zum Stück. Wie überhaupt das musikalische Ensemble (Iris Maron, Maria Pache, Mikael Rudolfsson und Karoline Steidl unter der Leitung von Matthias Weibel) ein satirisches Eigenleben führt. Der Geschichte von der Umbettung Napoleons auf St. Helena folgen aus einem Schlager von René Carol aus dem Jahr 1954 die Zeilen: „Deinen Namen, den hab ich vergessen / Deine Küsse vergesse ich nie“.
Vielleicht waren ja solche Songs gemeint, wenn die Jugend der Südseeinsel Pukapuka sich nicht darüber einigen konnte, ob der Gesang beim Sex Bestandteil des Vor- und/oder Nachspiels sein sollte. Einig war man sich nur darüber, dass nicht während des Geschlechtsakts gesungen werden sollte. Eine der komischsten Passagen des Hörspiels ist jedoch die, in der es mit Allan George Ramsay zu Ende geht – und ihm die Musik beständig ins Wort fällt. Doch der Tod des Chefmechanikers eines Expeditionsschiffs, das auf dem Weg zur antarktischen Laurie-Insel war, wird sich auch mit musikalischen Einsprüchen nicht verhindern lassen.
Manche Insel und Atolle sind topographische Desaster, ungeeignet für jede menschliche Besiedlung, andere werden von mythischen Göttern bewohnt. Manche sind durch den Anstieg der Meere vom Verschwinden bedroht, andere so klein, dass eine Wolke genügt, sie zu verdecken. Auf manchen vermutet man Schätze. Auf der Kokos-Insel, tausend Kilometer vor Kolumbien, will der deutsche Schatzsucher August Gissler (1857 bis 1935) den Kirchenschatz von Lima aufspüren und hebt dafür Löcher aus, „dass man darin Schiffe begraben kann, aber keinen Traum“.
Die Inseln von Judith Schalanskys ästhetischer Weltaneignung („auf denen ich nie war und niemals sein werde“, so die Autorin) sind ebenso reale wie imaginäre Orte zwischen Sehnsucht und Enttäuschung. Sie sind Gegenstände eines fremden Blickes, der Schrift und Zeichnung geworden ist – und nicht zuletzt Literatur, Theater und Hörspiel. Es sind Rückprojektionen aus der zweidimensionalen Welt der Kartographie in den Raum der Kunst. Und weil es nur ein gutes Viertel der Inseln aus Schalanskys Buch in das rund 55-minütige Hörspiel geschafft hat, wünscht man sich noch eine lange Nacht mit den übrigen abgelegenen Inseln, bevor sie hinter dem Horizont oder unter der Wasseroberfläche verschwinden.
Jochen Meißner – Medienkorrespondenz 01/2016
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