Éducation sentimentale

Pauline Sales: Im Bau

SR 2 Kulturradio So 23.2.2014, 17.04 bis 18.15 Uhr

„En travaux“ heißt der Theatertext der französischen Dramatikerin Pauline Sales im Original. Was genau in diesem Stück „in Arbeit“ ist, wird man nach Minute 65 der der 71 minütigen Hörspielfassung begreifen. Im Bau befindet sich nämlich nicht nur die Siedlung „Les Ensoleillades“ (Die Sonnenhöfe); auch die männliche Hauptfigur des Zwei-Personen-Stücks wird auf- bzw. umgebaut. In der pastelligen und nach menschlichen Maßstäben konstruierten neuen Form des sozialen Wohnungsbaus spiegelt sich die éducation sentimentale wider, der der Protagonist André unterzogen wird.André, eine Art Vorarbeiter, hat als Zeitarbeitskraft einen Swetlana eingestellt, genauso wie er frührer mal einen Andrea aus Italien eingestellt hat. Dass der Swetlana eigentlich eine Sie aus Weißrussland ist, bemerkt er erst spät. Die Arbeiter auf der Baustelle kommen aus aller Herren Länder zwischen Bulgarien und Portugal, wer wird sich da über Namen wundern. Der Hellste ist André (Guntram Brattia) offenbar nicht, doch das weiß er auch und es bekümmert ihn nicht weiter. Das Mädel hat sich aber auch wie ein echter Kerl benommen und Freundschaft schließen er und Swetlana nach einer Prügelei. Sie werden 28 schlaflose Nächte miteinander verbringen und sich dabei behutsam aneinander vorbeibewegen, wie Schiffe, die sich nachts begegnen.

Swetlana (Janina Rudenska) ist eine Weißrussin, die resolut durchs Leben geht und eben kein klischiertes Menschenhandelsopfer ist, das auf LKWs gestapelt in den Westen exportiert wurde. Sie stellt auf Andrés Baustelle Rigipsplatten auf und macht nachts Skulpturen aus Baumaterial, die nur in einem fragilen Gleichgewicht existieren können. Wenn man sie anfasst, fallen sie in sich zusammen.

Metaphorisch so eingestimmt, wundert es einen nicht weiter, dass sich hinter Swetlanas mühsam aufrechterhaltener Fassade eine zerbrochene Innenwelt verbirgt. Ihr weißrussisches Dorf ist von Baggern planiert worden, nachdem im nahen ukrainischen Tschernobyl das Atomkraftwerk in die Luft geflogen ist. „Du brauchst mich nicht anzufassen, um verseucht zu werden“, warnt Swetlana André – was wohl weniger wörtlich gemeint ist, als dass damit vielmehr eine Warnung vor der Gefährlichkeit der Liebe ins Bild gehoben wird. „Aber du hast nicht nichts geliebt. Du hast einen Sprung geliebt, eine Leere“, sagt sie zum Schluss. Denn der Mensch werde nur von den Spannungen zusammengehalten, die sich in der Kindheit, der Ehe, dem Beruf aufgebaut haben, so erklärt Swetlana ihre Philosophie, in der der Mensch ohne Zentrum auskommen muss.

In einem feinzisellierten Ambiente (Komposition: Christof Kurzmann, Regie: Anouschka Trocker) entwickelt sich die Beziehung von Swetlana und André entlang altbekannten Konventionen, angefangen von dem gewalttätigem Auftakt, auf den sich offenbar (Männer-)Freundschaften auf dem Bau gründen, bis hin zum typischen französischen Reden über die Welten der Kunst und der Liebe. Pauline Sales spielt mit diesen Klischees, passt sie aber in eine Struktur aus unverbundenen Szenen ein, die nicht unbedingt der Chronologie der Ereignisse folgen. Und sie wagt ein paar Ausflüge in Burschikose: „Ein Problem, das dir begegnet, seitdem dir Brüste wachsen, das hast du besser gelöst, wenn deine Brüste erwachsen sind“, sagt Swetlana, die vier Sprachen spricht, wenn auch „kein ganzes Französisch“. Dafür klingen ihre Texte erstaunlich glatt, was möglicherweise an der Übersetzung von Leyla-Claire Rabih und Frank Weigand liegt. Nur selten teilt sich auch im Deutschen der überraschende Erkenntnisgewinn unkorrekter Wörter oder fehlerhafter Grammatik mit. Dafür stolpert man ab und zu über unfreiwillige Komik, etwa wenn sich Swetlana bei den Kumpels in der Kneipe „mit gespreizten Schenkeln“ imaginiert, dabei aber nur „breitbeinig“ meint.

Der Schluss ist zwar in gewisser Weise tragisch, wird jedoch auf eine eher unangenehme Weise ins Poetische verlängert. Nachdem Swetlana sich aus der Geschichte verabschiedet hat, die Baumaschinen geklaut sind, Andrés Ehe zerstört und er selbst am Ende ist, begibt er sich ins spanische Dorf Cadaqués. Dort, unweit der französischen Grenze, hat nicht nur Swetlana eine Zeit lang gelebt hat, sondern auch der Surrealist Salvador Dalí mit seiner Muse Gala. Am Ende wird André gelernt haben, mit der Welt getrennt zusammen zu sein – und zwar mit Hilfe der Kunst. Für ein Stück, das sich so viel auf die Fragilität seiner Figuren und seine Konstruktion zugute hält, ist das doch eine Idee zu dick aufgetragen.

Jochen Meißner – Funkkorrespondenz 9/2014

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