Dreieckige Spitzen und Kanten
Heiner Goebbels: Juke Box Archive. Selbstportrait als Collage aus Material meines künstlerischen Schaffens
SWR 2, HR 2 Kultur, Mi 17.08.2022, 0.05 bis 2.00 Uhr
Terminprogrammierungen anhand von Geburts-, Jahres- oder Todestagen stehen nicht im besten Ruf, werden aber fleißig betrieben. Anlässlich dessen 70. Geburtstags spendierte der SWR dem Komponisten und Hörspielmacher Heiner Goebbels eine sechsstündige lange Nacht. Mit Recht!
Als Heiner Goebbels 1984 mit dem Stück „Verkommenes Ufer“ nach einem Text von Heiner Müller den Karl-Sczuka-Preis bekam und 1985 mit „Die Befreiung des Prometheus“, ebenfalls nach einem Müller-Text, mit den Hörspielpreis der Kriegsblinden und den Prix Italia ausgezeichnet wurde, war die Hörspielwelt nicht mehr dieselbe. Es gibt in der Geschichte des Hörspiels nur wenige Stücke, die – wie die genannten – für einen Paradigmenwechsel stehen. Die letzte Zäsur hatte das Hörspiel 1968 erlebt als „Fünf Mann Menschen“ von Ernst Jandl und Friederike Mayröcker dem „Neuen Hörspiel“ zum Durchbruch verhalfen.
Der Titel der knapp zweistündigen Montage, die an Goebbels Geburtstag am 17. August auf SWR 2 und HR 2 Kultur gesendet wurde, trägt den Titel „Juke Box Archive“ und wird von Heiner Goebbels im Untertitel als „Selbstportrait als Collage aus Material meines künstlerischen Schaffens“ definiert. Den Begriff der „Jukebox“ habe er ernst genommen, sagt Heiner Goebbels in seinen einleitenden Worten, nämlich dergestalt, dass er sich um Songstrukturen gekümmert habe, die es in seinen Arbeiten oft gegeben habe.
In der Tat könnte man aus seinen Hörspielen Singles auskoppeln. Nächtens aber der Auswahl des Autors aus seinen Werken zuzuhören, hat einen ganz eigenen Reiz – weil es nämlich zeigt, was das lineare Radio kann, wenn es denn will, nämlich a) mit seiner Musikauswahl überraschen, b) das Wort so einzusetzen, dass es nicht den Gegensatz zur Musik bildet und c) gelernte Radioformatstrukturen so zu verfremden, dass man sie überhaupt wahrnimmt, um dann mit ihnen zu spielen.
Hätte das (Kultur-)Radio nicht so eine panische Angst vor der eigenen Courage, wären diese zwei Stunden genau das richtige Programm für einen Sonntagnachmittag. Doch der Trend geht in eine andere Richtung, wie sich die Programmchefin der Internet-Jugendwelle Dasding des SWR, Mira Seidel, gerade im Branchendienst DWDL zitieren ließ: „Wir werden deshalb künftig tagsüber die Spitzen und Kanten aus der Musik herausnehmen. Hier wollen wir mehr Mainstream und dadurch eine höhere Durchhörbarkeit erreichen.“
Spitzen und Kanten aber sind genau das, was das Radio jenseits der algorithmengesteuerten Wiederholung des Immergleichen durch die Streamingdienste bieten sollte. Und so wie Heiner Goebbels seine Jukebox bestückt hat, ist das ein unterhaltsames Bildungsprogramm. Da hört man noch einmal den inzwischen verstorbenen Tenor Walter Raffeiner aus der „Befreiung des Prometheus“ und kurz darauf eine finnische Stimme – hörbar den gleichen Müller-Text rezitierend. Der Schnipsel stammt aus „Vapautettu Prometheus“ – der finnischen Version des Stückes aus dem Jahr 1995, die hier erstmals im deutschen Radio zu hören ist. Doch dann sägt auch schon wieder die Gitarre dazwischen und das Schlagzeug entfaltet eine so rohe Vitalität, die aus vordigitalen Zeiten zu kommen scheint.
Selbst das Saxofon, in den 1980er-Jahren ein bis zur seifigen Überdosierung eingesetztes Instrument, bekommt unter den Händen von Alfred 23 Harth seine Aggressivität zurück. Harth war auch Teil des Art-Rock-Quartetts Cassiber, mit dem Heiner Goebbels die Musikszene aufgemischt hat. Später folgt eine Goldberg-Variation aus der Theaterinszenierung von Heiner Müllers Greuelmärchen „Leben Gundlings Friedrich von Preußen Lessings Schlaf Traum Schrei“ aus dem Jahr 1979 – das älteste Stück in der Jukebox, die bis ins Jahr 2021 reicht.
„Stifters Dinge“, „Schliemanns Radio“, „Eislermaterial“ – schon die Titel verraten den weitgespannten Horizont, vor dem sich Heiner Goebbels musiktheatralisches Schaffen abspielt. Dazu gehören auch die Stimmen von David Bennent bis Ernst Stötzner und dem kürzlich verstorbenen Andre Wilms, die eben nicht den typische Hörspielton bedient haben.
Wie grenzüberschreitend Heiner Goebbels Hörspielschaffen war, konnte man auch im fünften Teil der „Wolokolamsker Chaussee“ von Heiner Müller hören, das kurz vor der Wende 1989 uraufgeführt wurde und die Formel „Vorwärts und nicht vergessen“ aus der Internationale auf das „vergessen und vergessen und vergessen“ verkehrte und reduzierte. Ein Refrain, den Vertreter der Frankfurter Hip-Hop-Szene performten, die später unter dem Namen Snap! („Rhythm is a dancer“) erfolgreich werden sollten.
Heiner Goebbels „Juke Box Archive“ ist mit 37 Titeln bestückt, die ineinander übergehend montiert sind, und das Staunen, wie gut das alles ist, mischt sich mit einer doppelten Wehmut. Der, dass einige der Stimmen inzwischen verstummt sind, und der, dass das Radio mit dieser Ressource an Wissen und Komplexität so nachlässig umgeht.
Nach dem „Juke Box Archive“ erzählt Goebbels von einem Essay Sören Kierkegaards, der ihn zu seinem Stück „Die Wiederholung“ inspiriert habe. Der definierte den Unterschied von Erinnerung und Wiederholung danach, dass das Erinnerte das Gewesene sei und nach rückwärts wiederholt werde, wohingegen die eigentliche Wiederholung nach vorwärts erinnere: „Deswegen macht die Erinnerung den Menschen unglücklich, während die Wiederholung, wenn sie möglich ist, einen glücklich macht.“ Der US-amerikanische Popstar Prince nannte das „Joy in repetition“ und wurde so neben Kierkegaard und Alain Robbe-Grillet zu einer weiteren Quelle für Heiner Goebbels Stück. Seine Stücke bestünden öfter aus „Dreiecken“, so Heiner Goebbels weiter, also „aus mehreren Quellen, mit denen ein Thema nicht erschöpfend behandelt wird, sondern in deren Zentrum eine Beschäftigung auf anregende Weise für die Zuschauer und Hörer:innen möglich ist.“
Diese Maxime sollte angesichts der simplifizierenden und auf Polarisierung zielenden Diskurse über jedem Kulturradioprogramm stehen. Wie so eine dreieckige Programmierung zugleich im Hitformat einer Jukebox und einer nächtlichen Langstrecke geht, konnte man bei Heiner Goebbels lernen. Sein Wissen hat er auch bis zu seiner Emeritierung als Professor am Gießener Institut für Angewandte Theaterwissenschaft an seine Studenten weitergegeben. Auf weitere Paradigmenwechsel im Hörspiel ist also zu hoffen.
Jochen Meißner – KNA Mediendienst, 25.8.2022
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