Dokumentation, Ror Wolf: Dankesrede zum Günter-Eich-Preis 2015
Am 7. Juli wurde Ror Wolf mit dem Günter-Eich-Preis der Medienstiftung der Sparkasse Leipzig für sein Lebenswerk als Hörspielmacher ausgezeichnet (Jurybegründung hier oder hier). Er ist nach Alfred Behrens, Eberhard Petschinka, Hubert Wiedfeld und Jürgen Becker der fünfte Preisträger der alle zwei Jahre vergebenen und mit 10.000 Euro dotierten Auszeichnung. Da Ror Wolf aus gesundheitlichen Gründen nicht anwesend sein konnte, wurde seine Dankesrede ausschnittweise als Videobotschaft präsentiert (siehe hier). Hier der vollständige Text:
Kurze Mitteilungen aus dem Autorenleben:
Erlauben Sie bitte, meine Damen und Herren, daß ich mit dem Anfang beginne. – Nicht ganz mit dem Anfang, aber doch mit einer interessanten Veröffentlichung, die etwa dreißig Jahre zurückliegt: 32 Jahre. –
Am 25. Juni 1983 schreibt der Kritiker HCK in der FAZ:
„Das Experimentieren mit dem Hörfunk als spezifisches Medium, wie es Ende der 60ger Jahre von Helmut Heißenbüttel, Franz Mon, Ror Wolf und anderen im sogenannten „Neuen Hörspiel“ entwickelt wurde, scheint sich weiter auf dem Rückzug zu befinden.“
Der Verfasser dieser Mitteilung mag das Neue Hörspiel nicht. – Er ist über den hörbaren Rückzug erfreut im Juni 1983. – Lassen wir das mal so stehen und gehen wir einfach noch etwas weiter zurück: in die späten 40ger, frühen 50ger Jahre. – Ich wohnte damals in Saalfeld, an der Saale, in der Deutschen Demokratischen Republik – und ich hatte ein Radio. – Ich erinnere mich gut:
Das Radio-Hören war ein nächtliches Ereignis. Es hatte etwas angenehm Gefährliches, etwas zart Unerlaubtes. Und die Dunkelheit war gewissermaßen Voraussetzung für ein konzentriertes und zugleich sinnliches Hörabenteuer. – Anfang Juli 1951 hörte ich zufällig im Süddeutschen Rundfunk, den ich gut empfangen konnte, etwas ganz Eigenartiges: Ein Geräusch: ein dauerhaftes Geräusch in der Umgebung von London. – An die genauen Vorgänge erinnere ich mich nicht mehr. Der Name des Autors war mir unbekannt. – Es handelte sich um ein Hörspiel. – Der Titel ist mir entfallen; aber ich hatte niemals zuvor etwas Vergleichbares gehört. Die Sendung faszinierte mich ganz und gar.
Ich hatte gerade das Abitur gemacht und wollte studieren: Literatur, Philosophie undsoweiter. Ich hatte mir in den Kopf gesetzt, eines Tages Schriftsteller zu werden. Das schien eine angemessene Lebensbeschäftigung zu sein. – Meine Bewerbung zum Studium wurde natürlich abgelehnt. Man legte mir nahe, eine Lehre als Betonbauer zu machen: Im Stahl- und Walzwerk Maxhütte, Unterwellenborn. – Mir stand also nicht das Studium der Literaturwissenschaft bevor, der Theaterwissenschaft, der Philosophie, das wunderbare Schweben, sondern die sehr tief am Boden stattfindende Arbeit als Eisenbieger, als Verschaler und Betonierer. – Schreiben und Betonieren: das sind, meine Damen und Herren, zwei grundsätzlich verschiedene Lebensweisen. Da werden Sie mir nicht wiedersprechen. –
Zwei Jahre später, als ausgebildeter Betonbauer, habe ich die DDR verlassen. – Ich befand mich sozusagen am endgültigen Beginn eines neuen Lebens. In dem ich freilich auch wieder nur, diesmal in Stuttgart, als Hilfsarbeiter eine Weile auf dem kalten Fußboden herumkroch. – Im einfachen Dreck, meine Damen und Herrn.
Aber ungefähr zwölf Jahre später saß ich dann plötzlich doch im gut gepolsterten Haus des Verlegers Siegfried Unseld. Ich hatte meine ersten Bücher bei Suhrkamp veröffentlicht. Ich war also tatsächlich ein Schriftsteller. Ich schrieb Prosa, ich schrieb Gedichte. – Ein Hörspielautor war ich allerdings nicht: Ich war nicht einmal ein Hörer von Hörspielen. – Das Hörspiel schien mir hauptsächlich eine Art eingesperrtes Theater zu sein: Es gab ein paar Figuren, es gab Dialoge, es gab viele Dialoge, zuweilen sogar mit etwas Musik garniert: es gab erwartete Handlungen, erwartete Entwicklungen und ein erwartetes Ende. Daß es in diesem Gelände auch etwas ganz anderes geben könnte, schien mir möglich, aber ich dachte nicht weiter darüber nach. – Diese Nacht in Saalfeld, das GERÄUSCH im Radio, hatte ich vergessen.
Ich saß also im Haus des Verlegers Siegfried Unseld mit vielen Autoren zusammen. Der große Günter Eich war dabei, dessen Gedichte und dessen Prosatexte ich besonders schätzte: „Botschaften des Regens“, oder die „Maulwürfe“. – Ich saß neben ihm. Ich saß neben Günter Eich und er fragte mich plötzlich: „Warum schreiben Sie keine Hörspiele?“ Ich glaube ich sagte: Ich kenne mich da nicht aus. Ich höre keine Hörspiele. Aber in diesem Moment erinnerte ich mich plötzlich an das Geräusch von 1951. – Ich sagte glaube ich: Irgendwann habe ich ein Hörspiel gehört, daß mich außerordentlich fasziniert hat, vor vielen Jahren: Es ging um ein Geräusch. Ich kenne den Autor nicht. Ich bin in diesem Gelände ganz unerfahren. – Der Autor, sagte Günter Eich, der Autor dieses Hörspiels bin ich. – Das war ein wunderbarer Moment. – Es handelt sich um sein Hörspiel „Fis mit Obertönen“. – Ich glaube wir lachten ein Bißchen. – Das war ungefähr 1967 oder 68.
1971 wurde mein erstes Hörspiel vom Westdeutschen Rundfunk gesendet: Der Chinese am Fenster – Der erste Teil einer geplanten Trilogie: Auf der Suche nach Doktor Q. – »Der Chinese am Fenster« ist ein Spiel mit Figuren, Worten, Geräuschen, Aktionen und Illusionen. – Die Figuren sind nicht fest, sie werden assimiliert von dem, was passiert. Passieren kann alles: auf rasch wechselnden Schauplätzen; in Zimmern, Straßen, Landschaften, Schiffskabinen, Eisenbahnabteilen.
Worte und Geräusche, so deutlich ihr Zitatcharakter mitunter auch ist, sind auf sinnliche Wirkungen aus. Was Spaß macht, ist nicht verboten. Die Aktionen sind stark gerafft, fließen zusammen und lösen sich ineinander auf: Kolportagespots, Alltagsszenen, Idyllen und Katastrophen. Illusionen werden gemästet, damit man sie besser schlachten kann.
Der Chinese am Fenster ist keine Metapher, sondern der Chinese am Fenster. Er taucht auf, er verschwindet. Wenn man Lust hat zu interpretieren, werden sich mehrere Möglichkeiten finden. Jede davon hat recht. In diese vibrierende Abenteuerwelt sollte in winzigen Schüben Originalton eingearbeitet werden, den ich bei Fußballspielen aufgenommen hatte: Gesprächsstücke der Zuschauer, Beifall, Mißmut, Entsetzen, Wut. Das sollte ein Versuch sein, Spannungsfelder anzulegen zwischen künstlich hergestellten Passagen und Live-Aufnahmen.
Dieser letzte Gedanke des Autors ist bei der Inszenierung allerdings kaum berücksichtigt worden. – Das störte mich überhaupt nicht. – Aber vielleicht war ja gerade das der Anlaß für mich und die Aufforderung, sich eine Weile entschlossen mit diesem Thema einzulassen: dem Thema Fußball. – Ich habe damals zehn Hörstücke zusammengebaut und nannte diese Hörstücke Radio-Collagen. – Sie sind zwischen1971 und 1979 entstanden: Nicht am Computer, sondern mit Hilfe altmodischster Tonbandmaschinen. – Das war ein ziemlich eindeutiger Fall kreativer Unvernunft. – Und es war ein nahezu endloser Arbeitsprozeß.
Das Grundmaterial wurde in vielen Jahren von mir aufgenommen, im unmittelbaren Kontakt mit den Akteuren: mit den Spielern, den Trainern, den Schiedsrichtern, den Reportern, und vor allen mit den Zuschauern, bei meinen ausführlichen Wanderungen über Tribünen und Stehkurven, bei Busfahrten zu gnadenlosen Auswärtsspielen, bei Fan-Club-Festen, an Kneipentheken, oder an den Rändern der Trainingsplätze, wo man die wirklichen Experten trifft, die Naturdarsteller dieses nie zu Ende gehenden Total-Theaters. – Wer annimmt, hier wollte sich einer lustig machen über das Verhalten der Fans, über ihre Worte und Gesänge, ihre Betrunkenheiten und ihre Verzweiflungen, ihr Glück und ihre Trauer, der täuscht sich allerdings.
Ich habe dieses von mir aufgenommene Material jahrelang bearbeitet, mehrfach transkribiert, mehrfach zerschnitten, mehrfach überspielt, mehrfach zusammengesetzt, wieder auseinandergenommen, wieder umgebaut und wieder umgeschnitten. – Schließlich habe ich es in den Studios vor allem des Hessischen Rundfunks in seine heutige Form gebracht: mit einem Verfahren, das man sehr bezeichnend damals den „blutigen Schnitt“ genannt hat. – Danach habe ich mich schweigend vom Fußball entfernt. – Übrigens unter Zurücklassung eines großen Haufens unbenutzten ungenutzten Materials. –
Ich habe mich lange nicht mehr mit dem Fußball beschäftigt. Daß man mich zuweilen immer noch „Fußballdichter“ nennt, ist amüsant. – Ich nehme es einfach als Kompliment für die entstandenen, gelegentlich gesendeten, gelegentlich gedruckten Produkte. –
Es gibt, meine Damen und Herren, inzwischen 24 Hörspiele, an denen ich beteiligt bin: als Autor oder als Hersteller. – Ich nenne diese Hörspiele: Radio-Reisen. – Und wenn ich, wie Sie bemerkt haben, schon keine Eisenbahnreisen mehr machen kann, keine Autoreisen, keine Flugreisen, nicht einmal Fußreisen, dann möchte ich wenigstens noch ein paar Radio-Reisen machen. Vielleicht gelingt mir das. – Und vielleicht hören wir uns wieder.
Vorher aber möchte ich mich bedanken:
Ich danke der Medienstiftung der Sparkasse Leipzig. – Ich danke der Jury, die mir diesen außerordentlich wichtigen Preis zugesprochen hat: Wolfgang Schiffer, Elisabeth Panknin, Linde Rotta, Franziskus Abgottspon und Jens Bisky. – Ich sollte an dieser Stelle auch einigen Dramaturgen danken, die mich vor langer Zeit ermuntert und unterstützt haben: Johann M. Kamps vom WDR; Hans Burkhard Schlichting vom SWR. – Ich danke natürlich den Regisseuren, den Sprecherinnen und Sprechern, den Cutterinnen, den Technikern, den Komponisten, den Geräuschspezialisten. – Und vor allem danke ich dem großen Dichter und Hörspielmacher Günter Eich: nicht nur für diesen einen Satz: „Warum machen Sie keine Hörspiele.“ – Ich habe Hörspiele gemacht, und das war für mein Autorenleben und für mein Überleben als Autor ganz entscheidend. – Danke. – Vielleicht hören wir uns wieder.
Ror Wolf
Hier kann man ein ausführliches Gespräch (68 Min.) von Ror Wolf mit Thomas Bille nachhören und am Sonntag, den 12. Juli sendet der MDR Ausschnitte der Preisverleihung, sowie die beiden Fußballcollagen „Der Ball ist rund“ und „Schwierigkeiten beim Umschalten“
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