Dokumentation: Heiko Daniels, Eva-Maria Lenz und Bernd Leuckert zum Hörspieljahr 2017
Bei der Verleihung des Hörspiels des Jahres 2017 an die SWR-Produktion „Coldhaven“ von John Burnside (Übersetzung, Komposition, Regie: Klaus Buhlert, Dramaturgie: Manfred Hess) blickte die Jury anlässlich der Preisverleihung im Literaturhaus Frankfurt/Main auf das vergangene Hörspieljahr zurück. Hier die Dokumentation der Statements der Juroren Heiko Daniels, Eva-Maria Lenz und Bernd Leukert vom 24. Februar 2018.
Die Ernte des Hörspieljahres 2017
Zunächst ganz herzlichen Dank an die Akademie und vielen Dank für das Vertrauen, dass Sie in unsere Jurytätigkeit in diesem Jahr investiert haben. 103 Hörspielproduktionen war es in diesem Jahr, darunter sehr viele Mehrteiler, etwa 2/3 waren Originalhörspiele. Das ist nicht nur ein Geschenk, das ist auch harte Arbeit für eine so kleine Jury, der wir uns sehr gerne und mit aller gebotenen Sorgfalt gestellt haben – in Einzelklausur und zu jedem Monatsende in Frankfurt in einem unserer Stammcafés. In Ermangelung eines Hörspielmuseums haben wir uns im Café des Filmmuseums getroffen. Eine für mich persönlich sehr wertvolle Erfahrung war, ein Jahr lange gezwungen zu sein immer wieder Kriterien zu finden und zu entwickeln und nicht nur für sich selbst, sondern im gemeinsamen Gespräch. Kriterien für das was wir für Qualität halten. Das ist ein spannender Prozess gewesen, den wir nicht konfrontativ geführt haben – aber wir waren auch nicht harmoniesüchtig. Ich glaube, wir haben uns ausgezeichnet durch eine hohe Empfangsbereitschaft gegenseitig auf unsere Beobachtungsgabe zu hören. Dafür vielen Dank an meine beiden Mitkontrahenten. Die Diversität einer solchen Menge an Produktionen – und es hätte an den Rändern vielleicht sogar noch etwas extremer und experimenteller ausfallen können – stellt eine große Herausforderung dar. Man vergleicht da sehr schnell Äpfel mit Birnen, wobei ich diese Art von Vergleichen durchaus mag, denn sie sind sehr fruchtreich und fruchtbar. Was also durften wir in diesem Jahr ernten? Lassen Sie mich einen ganz kurzen Überblick versuchen, in dem ich auf acht Schwerpunkte oder auffällige Themen hinweise. Die Nennung der nachfolgenden Produktionen stellt nicht zwangsläufig eine wertende Herausstellung dar.
Für das Hörspiel naheliegend gab es eine intensive Auseinandersetzung mit musikalischen Themen. Das reichte von musicalartigen Produktionen wie „Die bayerische Prinzessin“ von Dominic Robertson (BR), einer Pop-Produktion wie „Diven premix“ von Hans Unstern (NDR) bis zu einer Begegnung mit dem Jazzmusiker Lennie Cuje („Mein Freund Lennie“, HR) und Erinnerungen an den Multiinstrumentalisten, Komponisten, Sounddesigner Gerd Bessler („400% Bessler“, HR) oder den Popsänger „Mike Brant“ (HR).
Ein deutlicher Schwerpunkt lag in diesem Hörspieljahr auf den Themen Flucht und Vertreibung: z.B. mit der Hörspielbearbeitung „Die Umsiedler“ (NDR) von Arno Schmidt : zwischen 1944 und 1950 waren mehr als 12 Millionen Deutsche auf der Flucht nach Westen. Flucht und Wiederkehr im und nach dem zweiten Weltkrieg wurden in weiteren Produktionen ebenfalls thematisiert. Mit „Dienstbare Geister“ (WDR) lieferte Paul Plamper ein Stück über Migration und Kolonialgeschichte. In der Autorenproduktion „Damaskus Requiem“ – der Titel spricht für sich – von Fares Dahi, Alaa Al Haidar und Mohamad Halbouni (Institut für Künstlerische Forschung der Filmuniversität Babelsberg / RBB) reflektierten drei syrische Geflüchtete ihre Erfahrungen. In „Diensterklärung“ (SR) betrachtete Chris Ohnemus kritisch das Verhältnis von Flüchtlingen und Helfern hier vor Ort in ihrer gegenseitigen Abhängigkeit. Das Fluchtthema als Kommunikationsfrage wurde in „Train of Sound“ (NDR) von Ursula Scheidle aufgeworfen, in dem sie jüngere westliche Digital-Nomaden mit den Schicksalen der Flüchtlinge aus Ungarn (1956) und Flüchtlingen des Syrienkrieges verbindet.
Ein weitere Schwerpunkt ergab sich aus dem Thema Terrorismus oder Staatsterror. Unter dieser Rubrik versammelten sich Produktionen zu den Themen RAF, Stasi, linksradikaler Terrorismus im Italien der 70er Jahre („Der Verleger“ von Nanni Balestrini, BR), zwei Stücke über den Nationalsozialistischen Untergrund (NSU) sowie eine Produktion, die der Frage nachging, wie sich das Lebensgefühl nach den islamistischen Terroranschlägen in Paris geändert hat.
Dagegen gab es nur eine Produktion zum Thema Paarberatung. Das Stück hieß „Paartherapeut Klaus Kranitz“ (RB) von Jan Georg Schütte und Wolfgang Seesko, ein extrem reales mit gut aufgelegten Sprechern sehr witziges Stück. Zu dieser Kategorie der hyperrealistischen Hörspielproduktionen à la Duane Hanson, zählen wir auch eine beklemmende Produktion von Thilo Reffert über einen notorischen Multitasker, Selbstausbeuter und suizidal dauertelefonierenden Autofahrer: „Bleib kurz dran“ (MDR).
Ein weiterer Themenschwerpunkt war Science Fiction. Das Thema wurde vor allem vom WDR favorisiert: unter anderem mit dem 6-Teilter „Die drei Sonnen“ von Liu Cixin, dem derzeit bekanntesten chinesischen Science Fiction Autor. „Synapsis“ von Jörg Diernberger über den Einsatz neuartiger neurologischer Steuerungssoftware, und das Re-re-remake „Körperfresser“ von wittmann und zeitblom frei nach Jack Finneys „The Body Snatchers“. „Ich hatte das Radio an“ von Eran Schaerf (BR) dagegen war ein Mitschnitt aus einem zukünftigen, post-redaktionellen Radiosender. Die Rolle der Nachrichtenredaktion übernahm dort ein Software-Programm. Sie sehen: alles wird gut.
Es gab Bearbeitungen klassischer Literatur: z.B. „Der Todeskandidat“ (BR) von Max Herrmann-Neiße, „Das Schloss“ (BR) von Franz Kafka, eine „Tonio Kröger“-Adaption (HR) nach Thomas Mann sowie „Cousine Lisbeth“ (DKultur) nach Honoré de Balzac. Den Spitzenplatz für die längste Produktion belegte nach unseren Messungen der SWR mit der Faulkner-Adaption „Licht im August“ von knapp 8 Stunden. Aber Serien in dem Sinne, wie sie den Fernsehmarkt seit einiger Zeit umkrempeln, gab es für uns nicht zu hören, wenn man von der kleinen 5-Minüterserie „Luterland“ (MDR) von Lornez Hoffmann absieht
Kunstgeschichtliches durfte im Documenta-Jahr 2017 nicht fehlen. Z.B. wenn in der DLF-Produktion „Der Drehung entgegen“ Franz Erhard Walther fragte: Was ist überhaupt ein Bild? Oder Madeleine Giese in einer Produktion des SR die Frage aufwarf: „Wo fängt die Wand an?“ Eine witzige Replik gegen Kunsthandel und Museumsbetrieb. In einem eigens produzierten Documenta-Radiokanal gab es einen Livestream und 32 Auftragswerke zu hören: „Radio savvy funk“.
Ein einziges Kinderhörspiel wurde eingesandt: „Henrike mit dem Dachgarten“ von Albert Wendt (MDR). Uns hat es gut gefallen!
Zum Schluss: das Kabinett des Absurden und Grotesken, der dystopischen Kopf-Reisen und kurvigen Irrfahrten, wenn man das Vertrauen in die Sprache verliert oder wiederfinden will: so geschehen in Saša Stanišics „Georg Horvath ist verstimmt“ (NDR). Unbedingt gehört hierher auch „Die Unruhe“ (DKultur) von Valère Novarina: ein besonders sprach- und klangartistisches Stück. „Sola, Sulan, Seul“ (SR) vom Liquid Penguin Ensemble über den Übersetzungsbedarf am Europäischen Gerichtshof und den Versuch, die Hymne der Staatenunion unter Berücksichtigung ihrer 24 Amtssprachen in eine Fassung zu bringen.
Ein interessantes Mikroformat waren Hörspiele als Spiele, die sich nach den Regeln von Karten-, Brett- und Rollenspielen entwickeln: „Lieber Nicolas Berggruen – ein biographisches Hörspiel“ (rbb) von Ulrike Müller und „Industrie und Glück“ (BR) von Anna Zett. Die „formattechnisch“ avancierteste Einreichung war „IKARIA 6“ (NDR) von Benjamin Maack. Ein Hörspiel mit animiertem Webcomic als Videopodcastserie.
Zwei Abschlussbermerkungen: Es ist sicher sehr wichtig, dass das Hörspiel sich immer wieder auf sich selbst besinnt und sich aus dem akustischen Material heraus erzählerisch entfaltet. Das war in diesem Jahrgang keineswegs immer selbstverständlich. Es gab aber auch Versuche, das Hörspiel anders zu verorten: als Teil einer Installation, als Sound-Spur über einem Comic (man könnte noch ergänzen: als Soundtrack zu Virtual-Reality- oder Augmented-Reality-Anwendungen). Es bleibt die Frage, wie diese Spannbreite formaler, technischer und inhaltlicher Möglichkeiten im Hörspiel des Monats und Jahres der Akademie der Darstellenden Künste abgebildet werden kann bzw. sollte. Das ist sicher eine wichtige Frage für die Zukunft dieses Preises und der umfangreichen Juryarbeit.
Heiko Daniels
Dokumentarisches als Vitalspritze?
In der Vielfalt der Jahresproduktion, die Heiko Daniels prägnant umrissen hat, ist mir ein Hang zu dokumentarischen Stoffen aufgefallen. Eine Vitalspritze für das akustische Genre? Jedenfalls garantieren dokumentarische Themen Relevanz, doch keineswegs ohne Weiteres Hörspielqualitäten. Oft blieben einschlägige Produktionen Reportagen, gerade wenn sie seriell waren, wie eine große Produktion zur Belagerung Leningarads. Hingegen überzeugten uns vier dokumentarische Stücke, die wir wählten, durch eigenwillige Perspektiven und Klänge. Hier nur zwei Beispiele.
In „Mein Freund Lennie“ (HR/RBB/DLF Kultur) vergegenwärtigt der Regisseur Ulrich Gerhardt, wie er als Elfjähriger mit seinem Schulfreund Lennie 1945 aufbrach und wie die beiden nach dem Ende der Nazizeit und der Schließung ihres Internats unterwegs die neue Freiheit entdeckten. Nach diesem herausragenden Erlebnis trennten sich ihre Wege für Jahrzehnte. Lennie Cujé wurde in den USA Jazzmusiker, besonders Vibraphonvirtuose, wie im Hörspiel mehrfach zu hören ist. Erst 2015 treffen sich die beiden wieder, diesmal als alte Männer in Amerika. Nun zieht Lennie Bilanz seiner persönlichen und politischen Lebenserfahrungen. Er tut dies hinreißend spontan und lakonisch, manchmal auch auf Frankforderisch. Das lockere Hörspiel ist das Ergebnis einer wunderbaren Freundschaft.
Ganz anders „Sie sprechen mit der Stasi“ (WDR) von Andreas Ammer und FM Einheit. Dieses Stück entstand nach gründlichen Recherchen im noch kaum erschlossenen akustischen Stasiarchiv. Das Stück ballt vor allem denunziatorische Telefonanrufe von beflissenen Genossen und beklemmende Verhörprotokolle aus dem Inneren des Willkürsystems. Die Autorenleistung steckt hier in der klugen Auswahl der Originalaufnahmen aus immenser Materialfülle und in der musikalisch pointierten Montage. Diese Stichproben zeigen die ungeheure Spannbreite der Hörspielproduktionen.
Eva-Maria Lenz
Das Bessere jedes Monats
Zunächst möchte ich ins Gedächtnis rufen, dass wir nicht aufgefordert waren, das absolut beste Hörspiel auszuzeichnen. Sondern wir waren gehalten, das Beste des von den ARD-Sendern Angebotenen, also des konkret Vorhandenen zu wählen. Es handelt sich also um das relativ Beste, sagen wir, das Bessere jedes Monats. Und ich will nicht verschweigen, dass es Monate gab, in denen wir lieber gar nichts gewählt hätten.
Es wäre ja töricht, wenn sich die Erwartungen der Jury auf etwas Bestimmtes gerichtet hätte. Aber jeder von uns hatte die große Hoffnung, von einem Hörspiel überrascht zu werden. Vor fast einem Jahrhundert hatte Hans Flesch als künstlerischer Leiter der Südwestdeutschen Rundfunkdienst AG dazu aufgerufen, eine eigenständige Radio-Kunst zu entwickeln. Seitdem hat sich sehr langsam einiges in diese Richtung bewegt, vor allem in der Zeit nach Faschismus und Krieg. Heute, da die rundfunkspezifisch-technischen Voraussetzungen in einem Maße verfügbar sind, wie nie zuvor, finden wir eine breite konservative Grundhaltung, die vor Flesch anzusiedeln wäre: im Normalfall eine vorgelesene Geschichte mit einigen eingestreuten Spielszenen. Wir hätten uns also gefreut über eine Arbeit, die in einem zeitgenössischen Sinne, das Hörspiel reflektierend, dessen Grenzen mit seinen spezifischen Möglichkeiten überschreitet.
So etwas Ähnliches muß wohl auch in einigen Redaktionen gedacht worden sein. So bekamen wir Adaptionen von Theaterstücken, Spielfilmen, Gedichtbänden und natürlich von Romanen – wogegen im Grunde nichts zu sagen ist. Nur ist die tatsächlich schwindende Zahl an Originalhörspielen auffällig und, wie ich finde, zu bedauern. Andere mutige Grenzüberschreitungen fanden in Form alternativer Formate statt, etwa als Videoclips oder ganzer Filmserien, in denen eine Science-Fiction-Welt über Bild, Ton und Geräusch verteilt war, oder Produktionen, die andernorts als Soundinstallationen angeboten werden. Die Jury wurde offenbar als eine Sammelstelle für radiophones Sperrgut betrachtet. Es gab auch fremdsprachige Einreichungen und – mehrteilige Hörspiele, von denen der koproduzierende Sender auch schon mal nur den ersten Teil selbst ausstrahlte: Zwei-, Vier- und Sechsteiler, so, als ob wir das Hörspiel des Halbjahrs und nicht das Hörspiel des Monates und des Jahres finden sollten.
Aber wir haben durchaus auch einige konventionell gemachte Hörspiele mit großem Vergnügen gehört. Zum Beispiel Holger Böhmes „Manitu“ vom MDR (Hörspiel des Monats November 2017), ein grandioser Dialog – vor allem – auf der Fahrt zum und im Indianerspiel in Radebeul. Sehr komisch den Ost-West-Konflikt gestaltend und ausgezeichnet „gespielt“ (Jörg Schüttauf und Gustav-Peter Wöhler) – muß man in diesem Fall sagen. Und nun ein abrupter Schwenk zum Hörspiel des Jahres 2017 „Coldhaven“ von John Burnside. Ich lese die Begründung der Jury:
John Burnside, der berühmteste lebende Dichter Schottlands, hat für sein Originalhörspiel das Dorf Coldhaven erfunden, in dem zwei Jugendliche sterben. Die schottische Märchen- und Sagenwelt ist in diesem Ort so lebendig, dass die Erklärung dieser Todesfälle nur über die Aussagen einiger Bewohner zu ermitteln ist, die Hexen, Zaubersprüche, Feen, Engel und die Seelen der Toten ins Spiel bringen, aber auch soziale Vorurteile. Die mögen manchmal bestätigt werden oder auch nicht; sie tragen nichts zur Gewissheit über Gut und Böse bei.
Die nicht-chronologische Rekonstruktion des Geschehens, über die ein dichtes und beziehungsreiches Geflecht aus Naturbeschreibung, knapper psychologischer Zeichnung der Charaktere und mythologischen Motive gelegt ist, hinterlässt bei aller Aufklärung einen beträchtlichen Rest unaufklärbaren Geschehens, der durch die inneren Monologe der beteiligten Personen an sozialer Relevanz gewinnt, aber an der Wahrheitsfindung vorbeiführt. Das Spiel mit repetitiv eingesetzten Samples macht die Natur zu einer beschränkten Ansammlung von Versatzstücken, denen nicht zu trauen ist, freilich auch nicht dem Übernatürlichen, das in den Köpfen überlebt und eine schauerliche Realität erzeugt. „Coldhaven“ wird von einer poetischen, berührenden Sprache getragen und ist mit der prägnanten Klanggestaltung Klaus Buhlerts auf konzise Weise als ungewöhnliches Hörerlebnis realisiert.
Bernd Leuckert
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