Die Top 3 des 66. Hörspielpreises der Kriegsblinden 2016
Die drei Finalisten des 66. Hörspielpreis der Kriegsblinden stehen fest:
- „Evangelium Pasolini“ von Arnold Stadler und Oliver Sturm. Eine HR/DLF-Koproduktion, die schon von der Deutschen Akademie der Darstellenden Künste als Hörpiel des Jahres 2016 ausgezeichnet wurde.
- „Mein Herz ist leer“ von Werner Fritsch, eine Produktion des Deutschlandradio Kultur und Radio Bremen (RB)
- „Screener“ von Lucas Derycke, eine Produktion des Westdeutschen Rundfunks (WDR)
Die nominierten Stücke sind bis Mitte Mai auf den Seiten der Filmstifung NRW nachhörbar. Der Preisträger wird am 9. Mai bekannt gegeben. Die Preisverleihung findet am 17. Mai um 17.00 Uhr im Kölner Funkhaus des Deutschlandfunks (DLF) statt und wird von Ute Soldierer moderiert werden.
„Evangelium Pasolini“
1964 überraschte Pier Paolo Pasolini Kirche sowie Publikum mit seinem Film „Das 1. Evangelium – Matthäus“. Pasolini stellt dabei Jesus als realistische, menschliche Figur dar und setzt zugleich kompromisslos die biblische Vorlage um. Angesichts von Pasolinis Homosexualität und seiner kommunistischen Überzeugungen rief dies sowohl in katholischen als auch in linken Kreisen Verwunderung hervor. Das Hörspiel von Arnold Stadler und Oliver Sturm erzählt das Matthäus-Evangelium einerseits aus der Perspektive des Films von Pasolini, andererseits aus der des Schriftstellers Arnold Stadler, der diesen Film betrachtet. Das Evangelium, der Film, das Drehbuch und der nacherzählte Film formulieren ein vielperspektivisches Bild der ursprünglichen Geschichte von der Jungfrauengeburt bis zum Kreuzestod.
Die Begründung der Jury:
In der Bibel sind es oft die Begeisterten, die wunderbare Dinge jenseits des Alltäglichen erleben, davon berichten und in der Nacherzählung ihre Zuhörer mitreißen. Der große Literaturhistoriker Erich Auerbach hat den Nagel auf den Kopf getroffen, als er darum die Bibel als auratischen Urtext aller Literatur vorstellte, die mit den Mitteln der poetischen Anspielung arbeitet. Die in einer Vielfalt von Stimmen auf Dinge verweist, statt sie vollends zu erklären, und die verwischten Spuren durch Deuter interpretieren lässt. In ihrem Hörspiel haben die beiden enthusiastischen Macher sich einer mythischen Figur der Kulturgeschichte des zwanzigsten Jahrhunderts genähert. Sie haben eine vielstimmige, vielfach verschachtelte Radiogeschichte als Nacherzählung einer Nacherzählung produziert über einen, den man zunächst nicht unter den Religiösen vermutet hätte. Pier Paulo Pasolini? War das nicht dieser als Außenseiter? Dieser Aufreger? Der Schwule, der mit Filmen wie „Die 120 Tage von Sodom“ die Öffentlichkeit schockierte? Und einer, dem die Mehrheit seiner Zeitgenossinnen – gelinde gesagt – mit Skepsis begegnete, als er ausgerechnet das Evangelium nach Matthäus verfilmte. Arnold Stadler und Oliver Sturm erzählen diese Geschichte begeistert und mit allen Mitteln, die dem Hörspiel zur Verfügung stehen: Sie lassen das herrliche Italienisch des Originaltons lange frei stehen, bis man es wie Musik empfindet, gefärbt im melancholisch-trotzigen Ton des Neorealismo. Die Macher stellen die klangvolle Sprache neben Bachs Matthäuspassion und die eigens nachproduzierten Übersetzung der Filmdialoge. Doch vor allem, und das gehört zum Faszinierendsten, dessen das Hörspiel überhaupt fähig ist: Es gelingt ihnen, uns zu Sinneszeugen eines dichten Forschungsstoffes zu machen. Wir belauschen den Theologen und Schriftsteller Stadler dabei, wie er sich Pasolinis Film anschaut. Hören ihm beim Schauen zu und sind ganz nah dran, während er den Denkspuren des Filmkünstlers folgt. Seiner Version von Pasolinis Denkspuren. So erleben wir nicht nur die ansteckende Gefühlstemperatur eines Filmfans, der über ein Lieblingswerk spricht. Wir erfahren auch viel über den Nacherzähler selbst, wenn er mit der schlichten, uneitlen Ergriffenheit eines Gläubigen –„durch Pasolini ist mir das Evangelium näher gekommen, als durch jedes theologische Seminar“ – eine frische Deutung der Passionsgeschichte liefert. Eine, die weit entfernt ist etwa vom Gequatsche über die „christlichen Leitkultur“. Durch das Prisma Pasolini tritt in Stadlers Nacherzählung ein Christus hervor, der jenseits eines Elitekultes tatsächlich Stellvertreter der Verlassenen, Verachteten und Vergessenen ist. Egal welcher Religion sie angehören. In Stadlers Deutung erhält die Passion so eine Aktualität, die sich auch nicht verschließt vor den kriegspolitischen Hintergründen, die derzeit massenweise Menschen in die Flucht treiben. In diesem akustisch, inhaltlich und sprachlich dichten Klanggewebe gibt das Hörspiel einem Filmklassiker Raum, ermöglicht Einblicke in die künstlerische Spiritualität Pasolinis und erzählt dabei auch die noch immer nicht restlos geklärten Umstände seines Todes. Stadler und Sturm haben sich einiges vorgenommen. Mehr als nur einiges ist ihnen gelungen.
„Mein Herz ist leer“ Ein guter Haikumacher ist ein „Dichter des Gehörs“, er lebt „in der Welt der Klänge“. Das schrieb der Wanderdichter Taneda Santōka (1882-1940) über sein Metier, die kurze japanische Versform. Seine modernen Haiku erzählen vom Brüllen der Brandung, vom harschen Klang des Brettspiels, vom Stimmengewirr in der Gaststube, der Stille der Berge. Der Autor und Hörspielmacher Werner Fritsch dichtete Santōkas Haiku nach und ordnete sie zu einem Zyklus. Gemeinsam mit der Komponistin Miki Yui verzahnt er den Klang der Rezitation mit den inneren Hörbildern der Verse. |
Die Begründung der Jury:
Am Anfang hören wir Wind und Atmen. Dann Pause. Dann kurz einen Vogellaut. Dann spricht eine Stimme vom Fieber und der kalten Erde, auf die sich der heiße Körper legen wird. Und davon, dass Schnee fällt zwischen das Leben und den Tod. Etwas atmet, etwas ächzt. Es könnte berstendes Holz sein oder ein heftiger Luftstoß, der durch die Spalten eines im Frost gesprungenem Steines drängt. Doch es redet immer das Bewusstsein eines Dichters auf Wanderschaft. Einer, der lauscht und schaut und friert und wittert. Das schärft nicht nur seine Sensibilität, sondern auch unsere: wenn er spürt, dass der „ Klang der Regentropfen ist älter geworden ist“, empfinden wir das nach. So wird es häufiger gehen in diesem Stück: die Stimme und die Worte, die sie transportiert, scheinen sich aufzulösen in den sie umgebenden Tierlauten, Naturgeräuschen und der sparsam eingesetzten Musik. In seiner Bewegung zwischen Stille und Laut, zwischen Geräusch, Bild und Gedanke ist Werner Fritschs Hörstück atemberaubend raumgreifend. Alles an diesem Klanggebilde wirkt unmittelbar, direkt und klar. Vor allem: unpathetisch. Gerade darum spricht es uns an in seiner polyphon dichten Sinnlichkeit, die im Zusammenspiel mit den Fieldrecordings und der Komposition Miki Yuis eine zupackende Körperlichkeit entfaltet. Wir sehen, was die Augen des Dichters sehen, wir spüren die Kälte oder den Wind, wir erleben seine Verlorenheit in einer einsamen Nacht. Und während die sparsam gestreuten Hörereignisse uns anwehen, im entschlossen langsamen Rhythmus eines steten Voranschreitens, öffnet sich in uns ein spannungsvoller, sich weit ausdehnender akustischer Raum. Dies ist eine prallvolle Leere, in der nichts Lautes geschieht und auch keine Geschichte konstruiert wird mit dramaturgischer Raffinesse. Statt dessen: Schritt für Schritt sich entwickelnde plötzliche Wahrnehmung. Wahrnehmung, die nach Fernando Pessoa die einzige Wirklichkeit ist, der einzige Zweifel, das einzige Wissen, die in unserer Zeit noch Bestand haben. Natürlich sind all dies auch Qualitäten des Haikus, der japanischen Gedichtform, mit der Fritsch seit einem Japanaufenthalt 2005 arbeitet. Doch hier, in seinem Hörstück, hat die Dichtung ihr Medium gefunden.Werner Fritsch hat, wie schon oft, das Hörspiel als Instrument und Bühne genutzt und im Dialog mit seinem Vorbild Taneda Santoka eine genuine Radioperformance geschaffen.
„Screener“
Auf der Suche nach einem kurzfristigen Job meldet sich Felix für eine Stelle als Content Reviewer. Für ein großes Unternehmen kontrolliert Felix die Videoinhalte, die online gehen. Täglich werden Massen von Videos im Internet bereitgestellt: Tutorials, Tiervideos, Failvideos. Neben Alltäglichem ist auch unangemessenes oder illegales Material dabei. Er schaut zu und sortiert aus, im sicheren Glauben die Distanz zu wahren. Doch die Bilder bleiben nicht ohne Wirkung. Sie hallen nach und brechen in private Momente ein. Was geschieht mit der Bilderflut in seinem Kopf? Felix Leben gerät aus den Fugen.
Die Begründung der Jury:
„Das Hörspiel sei ein Medium für Gedanken und Gefühle“, hat Mauricio Kagel, Großmeister des Radioexperiments, einmal gesagt. Und tatsächlich ist es beglückend, wenn Hörspielproduzenten das Mikrophon als Makroobjektiv begreifen und einmal ganz nah rangehen. An die Menschen, ihre Gedanken und Gefühle und auch an die Zeit, in der sie leben. „Screener“ von Lucas Deryke, stellt sich künstlerisch dem unguten Gefühl, das ein Großteil der Gesellschaft dem Internet gegenüber hegt. Was tun mit der Welle an Gewaltdarstellung, die dort über uns hereinbricht? Ignorieren, um nicht zum anfeuernden Publikum zu werden? Doch zieht man sich dann nicht eskapistisch vor diesen Teil der Wirklichkeit zurück? Wir begegnen Felix, einem jungen Mann im Norden Europas und damit einem Teil der Welt, in dem ein Glücksversprechen aus Charles Dickens Roman „David Copperfield“ durchaus noch gilt: Held seines eigenen Lebens zu werden.
Felix bekommt diesen Satz im Optimierungsseminar eingebläut, doch wirklich klappen will es mit dem selbstbestimmten schönen Leben nicht. Endlich nimmt er einen Job an, um wie seine Freunde „wer zu sein“: nette Freundin, nette Wohnung, coole Partys in Clubs. Doch sein Job ist eine Zumutung, die ihn langsam zerstören wird. Er bewertet Gewaltvideos im Netz (screening) und beschreibt sie mit knappen Worten (tagging). „Girl, men, blood“, zum Beispiel – aus drei Markierungen entsteht ein Bild menschlicher Bestialität. Felix taggt auf Englisch, wohl auch um psychisch Distanz zu schaffen zum Gesehenen, was nicht gelingt. Und so werden wir Ohrenzeugen einer Entwicklungsgeschichte des psychischen Zerfalls: Wir hören – ganz ohne Voyeurismus in den Hintergrund gelegt – die Endlosschleife der Gewaltszenen. Erleben, wie sich Felix eingesteht, den Kopf zu voll zu haben und keine Zeit mehr zum Träumen, um dann mit anzuhören, wie die Alpträume kommen. Da Felix keinem von seinem Job erzählen mag, isoliert er sich zusehends, bis er zuletzt alles, was er sieht, optisch zerstückelt in eine Serie von getaggten Bildern. Fühlen kann er da schon lange nicht mehr. Ein solcher Horror wird im nah-dran-Medium Hörspiel ganz besonders evident, vor allem, wenn die Überblendung von Wirklichkeiten und der graduelle Verlust von persönlicher Autonomie akustisch so gut gelöst sind wie hier. Gemurmelte Selbstgespräche beim tagging und die Tonspur der Videos stehen den munteren Sätzen von Freundeskreis und Chef gegenüber. Letztere können nicht verhindern, dass unser Held in den Abgrund stürzt. Ein akustisch beeindruckendes und inhaltlich intensives Hörspiel zu einer brennenden Frage unserer Zeit.
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