Die drei Bedeutungen von o.b.

Im Rahmen einer Transparenz-Initiative hat der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten am 13. September 2013 erstmals Minutenpreise für den Fernsehtatort genannt.

In einem Text von 2011 hatte ich diese Preise ins Verhältnis zu Hörspielproduktionen gesetzt. Im Nachhinein gesehen, war ich ein bisschen großzügig. Im Verhältnis zur Tatortminute ist die durchschnittliche Hörspielstunde noch billiger. Hier die Aufrechnung der ARD und hier Meedia. (Der Link im Tweet funktioniert nicht mehr.)

Das Hörspiel – eine Geschichte voller Missverständnisse

Es war eine steile These, der Werbeslogan, mit dem sich ein Hersteller von Hygieneartikeln in  das kollektive Gedächtnis eingeschrieben hat: „Die Geschichte der Menstruation ist eine Geschichte voller Missverständnisse.“ Schön, dass sie keine Geschichte von Klassenkämpfen, von Aufstieg und Fall oder gar von Krankheit und Tod ist. Mit Missverständnissen kann man leben, aber manchmal stirbt man auch daran. Der Wuppertaler Hersteller von Hightech-Tampons weigerte sich nicht nur, sein Produkt beim Namen zu nennen, sondern formulierte deren Qualität als Defizit und versteckte sich auch noch verschämt hinter einer Abkürzung in Kleinschreibung: o.b. = „ohne Binde“. Der Werbespruch war genial, denn der Satzgegenstand lässt sich beliebig austauschen und trotzdem – beziehungsweise gerade deswegen – stimmt er immer. Was liegt also näher, als die Geschichte des Hörspiels als „eine Geschichte voller Missverständnisse“ zu erzählen. Denn seit Beginn ihrer Mediengeschichte sind auch Hörspiele o.b. („ohne Bilder“).

Die Bilderlosigkeit führte gleich zu zwei folgenreichen Missverständnissen, nämlich dass das Hörspiel ein „Theater für Blinde“ sei und dass es, wenn es schon von Sehenden gehört wird, am besten an dunklen Orten zu spielen habe. So geschehen im ersten Hörspiel überhaupt, Richard Hughes’ BBC-Produktion „A Comedy of Danger“ von 1924, die in einem Bergwerk spielte, in dem zu allem Überfluss die Beleuchtung ausgefallen war. Doch nicht alle Hörspielmacher und –verantwortlichen dachten so kurzschlüssig. Das erste deutsche Hörspiel, „Zauberei auf dem Sender“ von Hans Flesch, spielte, sich seiner selbst völlig  bewusst, mit dem eigenen Medium. Und selbst gegenwärtige Remixe von Walter Ruttmanns O-Ton-Collage „Weekend“ reichen nur selten an die Modernität des Originals von 1929 heran. Während es dem Wuppertaler Tamponhersteller gelungen ist, sich mit seinem Produkt von der Textur seines Vorläufers zu emanzipieren und sein Defizit zur Marke zu machen, wird das Hörspiel immer noch formelhaft über eine Negation definiert: „Kino im Kopf“ sei das Hörspiel heißt es ebenso falsch wie eingängig. Dieses Missverständnis führt bis heute zu einem aussichtslosen Abwehrkampf vieler unpässlicher Hörspieler gegen die Überwältigung des Auges durch Bilder und für den die Seele direkt affizierenden Hörsinn.

Es war der studierte Maschinenbauer und Psychologe Friedrich Knilli, der vor genau 50 Jahren forderte, den Schauplatz des Hörspiels aus dem Schädelinneren des Hörers in dessen akustische Umgebung zu verlegen, und der für das Hörspiel als ein „totales Schallspiel“ plädierte. Ohne die Neue Musik der 1950er Jahre, ohne die Erfindung der Stereophonie und ohne die theoretischen Überlegungen des mittlerweile 81-jährigen Knilli hätte es kein Neues Hörspiel (mit großem N) gegeben.  Warum halten sich die Missverständnisse über das Hörspiel so hartnäckig? Unter anderem deshalb, weil an der Stelle des kulturellen Gedächtnisses, wo sich das Hörspiel befinden müsste, nur Ersatzflüssigkeit schwappt und ein Hirnscan o.b. („ohne Befund“) ausfiele. Bei Film und Literatur ist das anders. Während Zeitungs- und Buchverlage das cineastische Erbe der Menschheit auf Hunderten von DVDs veröffentlichen, gibt es immer noch keinen verfügbaren Kanon der 100 bemerkenswertesten Hörspiele aus der mittlerweile fast 90-jährigen Geschichte des ersten elektronischen Mediums.

Wer von den technischen und ästhetischen Missverständnissen des Hörspiels redet, darf von den ökonomischen nicht schweigen. Das potenziell Tödlichste ist, dass die Hörspielminute im Vergleich zu anderen Sendeminuten zu teuer sei. Das Gegenteil ist der Fall. Gemessen an seinen Leistungen ist das Hörspiel einfach viel zu billig. Ein Theaterregisseur zuckt angesichts der Radiohonorare mit den Achseln. Die Zeit und die Ressourcen, die in ein Hörspiel investiert werden, entlocken Filmton-Leuten ein mitleidiges Lächeln. Und wie viele Minuten Fernseh-„Tatort“ könnte man vom Budget eines ganzen Hörspiels drehen? Eine niedrige einstellige Zahl – je nach Landesrundfunkanstalt –, wenn überhaupt. Man kann es auch umgekehrt formulieren: Eine Hörspielabteilung ist eine hocheffiziente Maschinerie zur Herstellung von Kunstwerken. Zentralisierungen, Stellenstreichungen, Etat- und Sendeplatzkürzungen sind unter diesen Umständen gleichermaßen effizient: Bei minimalen Einsparerfolgen lassen sich maximale Schäden an der Infrastruktur erzielen.

Jochen Meißner – Funkkorrespondenz 30/2011

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P.S. Dieser Text ist im Rahmen meiner „kleinen Mediengeschichte des Hörspiels in zehn Missverständnissen“ entstanden, die das 50-jährige Jubiläum von Friedrich Knillis bahnbrechendem Buch „Das Hörspiel – Mittel und Möglichkeiten eines totalen Schallspiels“ feierte.
Titel der knapp 90-minütigen Sendung: „Schallgestalten in bilderlosen Räumen oder Wie Friedrich Knilli den Deutschen das Hörspiel aus dem Kopf schlug“ (D-Kultur 2011).

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