Der Laut macht die Musik

Dieter Roth: Murmel

Deutschlandradio Kultur, Fr 28.03.2014, 0.05 bis 0.50 Uhr /
SWR 2, Di 01.04.2014, 23.03 bis 23.48 Uhr

Bei wie vielen Hörspielen hat man sich schon gewünscht, dass zugunsten von Musik, O-Tönen, Atmosphären oder Sounddesign auf die Texte verzichtet worden wäre? In seiner Zeit als Hörspielchef beim Hessischen Rundfunk (HR) hat Christoph Buggert das einmal gewagt, nämlich als er Alfred Behrens und Norbert Jochums Eisenbahnstück „Locomotion“ aller Texte entkleidete, um daraus einen „akustischen Film“ zu machen. Bei dem Stück „Murmel“ nach einem aus dem Jahr 1974 stammenden Theatertext des bildenden Künstlers Dieter Roth (1930 bis 1998) wäre solch eine Entwortung grob fahrlässig. Denn der komplette 176-seitige Text besteht nur aus einem einzigen Wort: „Murmel“. Sechs Buchstaben, eine Lautverbindung aus zwei Silben. Fremdtexte nicht zugelassen. Seit Regisseur Herbert Fritsch es 2012 an der Berliner Volksbühne aufführte, ist das Stück ein Hit für Freunde übertriebener Gesten, schriller Kostümierung und des Slapsticks.

Die zwangsläufig bilderlose Radiobearbeitung des Konzepts durch die koreanischstämmige Hörspiel- und Featureautorin Grace Yoon folgt musikalischen Regeln und setzt auf die sprechtechnischen vokalen Möglichkeiten ihres Ensembles (Martin Engler, Meike Schmitz, Hans Peter Hallwachs, Arne Fuhrmann, Linda Olsansky, Bo Wiget und die Capella Vocale aus München). Der menschliche Artikulationsapparat vermag weitaus mehr Vokale zu bilden als a, e, i, o und u, und wer gemeint hat, dass Murmel nur zwei enthalte, hat sich getäuscht. Vom u über den Diphthong ou (Mourmel) oder den Hiatus ua (Muarmel) bis zum Koloratur-a ist der Weg kürzer, als man denkt. Von hinten rollt ein r über die Zungen und dialektale Einfärbungen, Sprachduktus und Sprachmelodie tun ihr Übriges. Vom Röhren bis zum Singen reichen die artikulatorischen Möglichkeiten, und wenn man das Murmelmotiv nach kompositorischen Regeln durchdekliniert wird daraus im Krebsgang „lemruM“. So umgeht man ironisch die strengen Regeln des Autors, ohne sie zu brechen.

Die Beschränkung auf ein zweisilbiges Wort, das einen unspezifischen Sprechakt meint, der zwischen Bedeutungslosigkeit und Beschwörung schwankt, wird zu einem Moment der Freiheit. Anders als Joseph Beuys’ Performance „Ja Ja Ja Ja Ja, Nee Nee Nee Nee Nee“ von 1968, die 64 Minuten lang einem sprachlichen Minimalismus aus Repetition und Variation huldigt, ist in Grace Yoons nur 45 Minuten langer Hörspielinszenierung das Sprachmaterial offen für verschiedenste Zuschreibungen. Nicht die Wörter machen den Dialog, nicht die Sätze formulieren eine Handlung, es sind die Laute, die die Musik (und gegebenenfalls die Szene) machen. Mehr Libretto als das Wort Murmel braucht es nicht.

Nichtvokale Geräusche sind nur zur Abrundung der Inszenierung da. Eine Art akustische Schiebeblende deutet den Wechsel von einem musikalischen Satz zum nächsten an. Streicher, die von Ferne an die Cello-Punks der finnischen Band Apocalyptica erinnern, sorgen für eine klangliche Grundierung und ein paar Tastaturanschläge als Akzente reichen völlig aus. Denn die interpretatorischen Möglichkeiten vom performativ gemurmelten Stimmengewirr bis zu chorischen Gesängen, von der Rhythmisierung bis zur szenischen Auflösung sind so vielfältig, dass sie ein bedeutungsvollerer Text erst einmal aushalten müsste.

Das „langweiligste Theaterstück der Welt“, das Dieter Roth vorschwebte, ist dabei natürlich nicht entstanden, sondern ein Radiostück, das – trotz bzw. genau wegen seiner Restriktionen – leicht und spielerisch den doppelten Imperativ erfüllt, mit dem Friederike Mayröcker und Ernst Jandl die radiophone Kunst definiert haben: „Hör!Spiel!“ Und weil es in Murmel in der Hauptsache um gesprochene Sprache geht – ohne die „Hörspiel“ dasselbe bedeuten würde wie „Musik“, ist „Murmel“ natürlich ein echtes Hörspiel, auch wenn es auf den Klangkunstterminen der beiden koproduzierenden Anstalten Deutschlandradio Kultur und Südwestrundfunk (hier bei SWR 2) lief.

Jochen Meißner – Funkkorrespondenz 5/2014

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