Das lyrische Ich und das singende Walross

Book of Songs – Radiokünstler inszenieren Lyrik aus Europa
Ausgewählt und erläutert von Jan Wagner

DLF 11.6.2022, 20.05 bis 22.00 Uhr, DLF Kultur 12.6.2022, 18.30 bis 20.00 Uhr

Radiophone Formen für Lyrik zu finden, ist nicht ganz einfach. Für das Deutschlandradio haben zehn profilierte Hörspielmacherinnen und -macher Gedichten aus ganz Europa eine akustische Form gegeben – manche als Dienstleister, andere als Dialogpartner.

Für die Lyrik hatte das Deutschlandradio schon immer ein Herz und streute sie immer mal wieder in sein Programm ein. Jetzt hat Sabine Küchler, Hörspielredakteurin beim Deutschlandfunk in Köln in Ko-Produktion mit dem Südwestrundfunk (SWR) die Top Ten der deutschen Hörspielmacher gebeten, zehn zeitgenössische Gedichte zu vertonen. Die Auswahl der Gedichte aus ganz Europa stammt von dem Lyriker, Büchner-Preisträger und Hörspielautor Jan Wagner besorgt. Sein „Book of Songs“ läuft am Samstag, dem 11. Juni, im Deutschlandfunk und am Sonntag, dem 12. Juni, auf Deutschlandfunk Kultur.

Neben den Fassungen für das lineare Radio von 97 beziehungsweise 90 Minuten ist die Podcastversion mit 137 Minuten fast eine Dreiviertelstunde länger – was daran liegt, dass man nicht einfach einen Director’s Cut mit Bonusmaterial gemacht hat, sondern eine eigene Fassung erstellt hat. Auf die Zwischenmoderationen Wagners wurde dabei verzichtet, stattdessen hört man fast privat anmutende Gespräche zwischen Jan Wagner und seiner Redakteurin Sabine Küchler, die die verhörspielten Gedichte umrahmen. So nimmt man den Podcast als Genre ernst, und betrachtet ihn nicht bloß als neuen Ausspielweg. In der Anordnung der Gedichte und der Kompaktheit der Form ist jedoch die lineare Fassung überzeugender, die ebenfalls in den Audiotheken steht.

Den Auftakt macht eine Beschwörung, nämlich das „Lied an den Lärm“ der walisischen Dichterin Deryn Rees-Jones, die Andreas Ammer zusammen mit der Band Driftmachine inszeniert hat. Ein zehnminütiger sprechgesangartiger Popsong, der dumpf gegen die Stille des Todes antrommelt und anzwitschert und ein wenig an die Einstürzenden Neubauten erinnert. Kein Wunder, die deutsche Stimme ist die von Alexander Hacke, der sich zu bemühen scheint, so prätentiös wie Blixa Bargeld zu klingen. Dabei wird Lärm auf den Altar des Lärms gehäuft: „Deine Flügel zu schlagen gegen das Schweigen des Todes: Für Liebe, oder was auch immer für Liebe steht“.

Der Beschwörung folgt das sachliche Gedicht „Ei“ des slowenischen Lyrikers Ales Steger, dessen Gegenstand in die Form eines Spiegeleis überführt wird, beziehungsweise poetischer wird festgestellt: „dass dem Ei im Tod ein Auge wächst“. In der sechsminütigen Musikalisierung des Komponisten Sven-Ingo Koch, der auch schon die Soundtracks für Jan Wagners eigene Hörspiele geliefert hat, wird der Text sehr weit nach hinten gemischt und von einem gestrichenen und gezupften Kontrabass beinahe verdeckt. Da spielt sich jemand arg in den Vordergrund.

Streicher mit Elektronik hat der Schweizer Cellist und Komponist Martin Schütz für das Gedicht „Idee zu einer Skaldensaga #1“ des isländischen Autors Halldor Laxness Halldorson eingesetzt, in dem ein schwedischer Zahnarzt in Island einem gestrandeten Wal die Zähne richten will. Statt einer mittelalterlich-höfischen Skalden-Dichtung entwickelt sich im Gedicht der Plot einer Seifen-Oper. Zu Beginn wird der isländische Originaltext rezitiert, der mit der englischen Redewendung „That’s life“ endet. Die Ernsthaftigkeit des Vortrags steht in einem schönen Kontrast zum absurden Inhalt. Dass der Text inklusive der englischen Schlusspointe komplett ins Deutsche übersetzt wird, nimmt die Ironie des Gedichtes auf – denn deutscher könnte man es kaum machen.

Für das Klagegedicht über ihren toten Vater „Die Zeit ging nicht vorbei“ der französischen Dichterin Valerie Rouzeau probiert die koreanisch-stämmige Hörspielautorin und -regisseurin Grace Yoon zwei verschiedene Sprechhaltungen aus – aus der Elegie wird plötzlich ein sanft kopfnickender Rap-Track, dem man seine Herkunft aus dem französischen Hip-Hop anzumerken meint. Jan Wagner attestierte dem Text in seiner Anmoderation eine „federleichte Trauer“.

Das Gedicht „Die Väter“ der bosnischen Autorin Adisa Basic evoziert in der Realisation von zeitblom (Georg Huber) Bilder des Bürgerkriegs in Ex-Jugoslawien, betrachtet wie ein grobkörniger Film, dessen akustische Entsprechung das Knacken von Vinylplatten ist. Der bosnische Originaltext wird wie dokumentarisch eingesetzt, während das deutsche Voice-Over seinen eigenen Rhythmus hat.

Ein Messer, das mehrfach in einen Körper hineingesteckt und dreimal umgedreht wird, überblendet im gereimten Gedicht „Die Puppe“ der belarussischen Autorin Vera Burlak die Schrecken der Folter mit dem Versuch, eine Aufziehpuppe in Betrieb zu setzen. Am Ende ist das Opfer zu dieser Aufziehpuppe geworden und agiert genauso mechanisch. Der Schrecken entwickelt sich in Klaus Buhlerts Inszenierung von dem flüssig beiseite gesprochenen Originaltext, bei dem man die Reime kaum wahrnimmt, hin zu im Deutschen fast überakzentuierten Reimendungen – als sei der Prozess der Entmenschlichung schon abgeschlossen.

Danach folgt ein Liebesgedicht von dem man vermuten darf, das es tragisch endet: „Maulbeerenhain“ aus der Türkei von Gonca Özmen. Das „Komm“, mit dem die Liebenden sich unter einen Maulbeerbaum locken, wird in der Komposition von Ulrike Haage von elegischen Orgelklängen untermalt. Den mythologischen Hintergrund von Pyramus und Thisbe liefert Jan Wagner in seiner Moderation nach.

Konsequenzlos eine Wiese überschwemmen kann der Schleusenwärter im polnischen „Gedicht ohne Geheimnis“ von Tadeusz Dabrowski. Konsequenzlos bleibt das deshalb, weil das lyrische Ich in dem ausschließlich auf Infinitivkonstruktionen aufgebauten Text komplett fehlt. Das Duo Merzouga (Janko Hanushevsky und Eva Pöpplein) erlaubt sich aber am Schluss den Scherz, ein Pferd durch die Szenerie trappeln zu lassen.

Das titelgebende „Walross“ in dem irischen Gedicht von Ailbhe Ni Ghearbhuigh darf da in der Inszenierung des Komponisten und Sounddesigners Björn SC Deigner sogar zu singen anfangen. Wenn auch in einer eher rülpsenden Tonart – Trost klang noch nie so weird.

Im letzten Gedicht der akustischen Anthologie schließlich, „Der Teufel & die Freiheit“ von der kroatischen Autorin Olja Savicevic, zeigt der Pianist Hermann Kretzschmar (Ensemble Modern) was das Hörspiel kann, wenn es sich nicht in den Dienst des Gedichtes stellt, sondern sich als sein Gegenüber betrachtet und mit Musiksamples und Sprachloops („But I’m never really ready and I’ve never been interested in everything“) in Dialog mit dem Text tritt und seine eigene Sprache mitbringt.

Zehn verschiedene Klangsprachen von zehn verschiedenen Hörspielmacherinnen und -machern treffen auf eine Gedichtauswahl aus zehn europäischen Sprachen, die den ganzen Reichtum lyrischer Ausdrucksformen umfasst. Jede Fassung geht auf ihre Weise angemessen mit ihrer Vorlage um, aber erst im letzten Stück entsteht aus der Konfrontation von den sprachlichen und radiophonen Mitteln etwas Drittes, das eine Nummer größer ist als die Summe seiner Teile

Jochen Meißner – KNA Mediendienst, 09.06.2022

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