Zerreißprobe mit Downsyndrom

Bertolt Brecht, Helgard Haug: Der kaukasische Kreidekreis

HR 2 Kultur, 13.8., 16.04 bis 17.00 Uhr
ORF Ö1, 19.8.2023, 14.00 bis 15.00 Uhr

War es in der brechtschen Dialektik noch einfach, im kaukasischen Kreidekreis Stellung gegen die Mutter und für die Mütterliche zu beziehen, so geht es in Helgard Haugs Hörspiel- und Theaterinszenierung des Stoffes um Komparative und Kompromisse.

Als Bertolt Brecht sein episches Theaterstück „Der kaukasische Kreidekreis“ nach einer chinesischen Vorlage konzipierte und in gewisser Weise auf Linie brachte, war die Welt noch übersichtlich in zwei Blöcke geteilt. Auf der eine Seite stand die Fürstin, deren Mann bei einem Staatsstreich enthauptet wurde und die sich und ihre Besitztümer in Sicherheit brachte, nicht aber ihr Kind. Auf der anderen Seite stand die Magd, die das Kind aufnahm, weil es sie „anschaute wie ein Mensch“. Den Rat der Köchin „Dann schau du`s nicht an“, hat sie nicht befolgt und so wurde das Kind der Herrin der Sohn ihrer Sklavin.

Die Theaterfassung bei den Salzburger Festspielen 2023 mit dem Theater HORA.

Theaterfassung der Salzburger Festspielen 2023.

Wie der Streit der Fürstin und der Magd um das Kind bei Brecht ausging, weiß man. Es wurde der mütterlichen Magd und nicht der leiblichen Mutter zugesprochen, weil erstere es losließ, als die Fürstin es aus dem kaukasischen Kreidekreis zerrte, damit es nicht zerrissen würde. In Helgard Haugs Inszenierung für die Salzburger Festspiele, die sie zusammen mit dem Zürcher „Theater Hora“, einem Ensemble für Menschen mit kognitiven Beeinträchtigung, gemacht hat, ist die Sache nicht so klar. Der Fokus liegt nicht wie bei Brecht auf den polit-ökonomischen Verhältnissen, sondern auf einer individuelleren Ebene, auf der Lebenschancen verhandelt werden.

So wird hier denn auch das Kind befragt zu wem es will, woraufhin sich die Mütter ein regelrechtes Bewerbungsduell liefern. Da werden auf der einen Seite ein iPhone 14 Prio Max, Reisen, eine Barbie-Puppe mit Down-Syndrom etc. geboten und auf der anderen Seite Liebe, Geborgenheit und (Achtung:) Freiheit. Ein großes Wort für eine Magd, wusste doch schon Heiner Müller, dass Geld Freiheit ist. Andere Alternativen der Mutterschaft wie der Soldat Simon (Simon Stuber) oder die Marimbaspielerin des Hora-Ensembles Minhye Ko (Komposition: Barbara Morgenstern) werden ausgeschlossen.

Von der brechtschen Vorlage bleiben ein paar Versatzstücke: „Ginge das Kind in goldenen Schuhen träte es auf die Schwachen! Es müsste Böses tun und könnte nicht lachen. Es hätte ein Herz aus Stein. – Ging das Kind in Lumpen wird es den Hunger fürchten müssen aber nicht die Hungrigen.“ Ein aus der Zeit gefallener Satz im Klassenkrieg der Reichen gegen die Armen, den, wie Finanzinvestor Warren Buffett schon 2006 sagte, seine Klasse im Begriff ist zu gewinnen.

Was die 54-minütige Hörspielinszenierung auszeichnet, die während der Probenphase für das zweistündige Theaterstück entstanden ist, sind die Stimmen, die nicht dem Hörspielsprech konventioneller Stücke entsprechen. Dass Trisomie-21, das sogenannte Down-Syndrom, auch zu Artikulationsschwierigkeiten führt, ist eben kein Hinderungsgrund, sondern eine Qualität mit der man spielen kann. In der Hörspielgeschichte gibt es dafür ein Vorbild. „Das Hörspiel von Mongopolis“ des Berliner Theaters „RambaZamba“ (RBB 2006) nach einem Text von Gisela Höhne, hat bewiesen, wie künstlerisch ambitioniertes

Hörspiel auch mit nicht normgerechten Sprecherinnen und Sprechern funktioniert.
Elena Gilbert als die Magd Grusche, Tiziana Pagliaro als die Fürstin, der bald 31-jährige Robin Gilly als das Kind Michel und Remo Beugert als Erzähler und Richter Azdak bringen nicht nur ihr Schweizer Idiom und vereinzelte Helvetismen wie „Reissprobe“ (für die mehrfach durchgeführte „Zerreißprobe“) mit, sondern auch eine Tonalität, die man in den Medien sonst nur selten hört. Wie oft bei den Inszenierungen der Theater- und Performance-Gruppe „Rimini Protokoll“, von der die Regisseurin Helgard Haug ein Drittel verkörpert, sind es die sogenannten „Experten des Alltags“, die ihre Rollen spielen. Auch in der Brecht-Paraphrase spielen die Geschichten der Hora-Mitglieder eine Rolle – auf dem Theater mehr noch als im Hörspiel.

Anders als in der brechtschen Dialektik geht es bei Haug und Hora um Komparative und Kompromisse. Wer die richtigere oder die mütterlichere Muter ist, ist nicht ausgemacht, wenn man an die Zukunftsperspektiven des Kindes denkt. Und wenn die Magd Grusche verhandeln will, auf dass sie das Kind behalten darf, „bis es alle Wörter kann“, denn „es kann erst ein paar“ und ihr daraufhin vorgehalten wird, dass sie selbst ja nur ein paar Wörter könne, dann ist das einerseits von zynischer Kälte und andererseits herzzerreißend.

Am Ende hat sich das Hora-Ensemble das Stück regelrecht zu eigen gemacht und präsentiert der Magd Grusche noch eine fiktive moralische Rechnung. Eine Rechnung, die mehr von den Lebenserfahrungen (genetisch) Benachteiligter erzählt als die ausgedachte Vorlage. Was, wenn das Kind nicht kerngesund, hübsch, propper und süß gewesen wäre? Hätte sie es auch mitgenommen, wenn es „acht Beine, fünf Hände und große Ohren wie ein Monsterhase“ gehabt hätte?“ – „Das kann ich nicht sagen, aber die Frage ist gut“, antwortet Grusche. Nein, das ist natürlich keine gute Frage, oder sollte es zumindest nicht sein. In den letzten Minuten zerfällt das Konzept der Inszenierung also aufgrund der Inkompatibilität der verhandelten Diskurse – was man aber auch als Emanzipationsbewegung der Akteure interpretieren kann.

Jochen Meißner, KNA Mediendienst, 17.08.2023

 

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.