Wunderbar gegenwärtig
Robert Schoen: Schicksal, Hauptsache Schicksal
Hörspiel nach Motiven aus Joseph Roths „Legende vom heiligen Trinker“
HR 2 Kultur, Mi 15.12.2010, 21.30 bis 22.20 Uhr
Der Plot ist simpel: Im Paris der 1930er Jahre bekommt der Penner Andreas von einem Fremden 200 Francs, die er binnen eines Jahres der Heiligen Therese in der Kirche Sainte-Marie des Batignolles stiften soll. Doch es kommt immer etwas dazwischen und schließlich stirbt er in der Kneipe gegenüber der Kirche in den Armen einer Therese, in der er die Heilige zu erkennen glaubt. Seit 1950 ist Joseph Roths „Legende vom heiligen Trinker“ mindestens fünfmal verhörspielt worden. Zuletzt im Jahr 2007 in einer zweisprachigen Fassung von Deutschlandradio Kultur, Saarländischem Rundfunk (SR) und France Culture (vgl. FK 9/07).
Warum nun, diesmal produziert vom Hessischen Rundfunk (HR), schon wieder eine Neufassung? Die Antwort ist einfach: Es ist gar keine. Robert Schoen benutzt nur Motive und Plotpoints aus der Erzählung. Er lässt sie von Lorenz Eberle erzählen und das allein ist schon hörenswert. Denn Eberle ist kein Schauspieler und trotzdem, oder vielmehr deswegen der Star einiger Stücke des Off-Hörspielmachers Tom Heithoff. So brillierte Eberle als Hartz-IV-Empfänger in Heithoffs mehrfach ausgezeichneten Hörspiel „Hundelebensberatung“. Dazu war er unter dem Vorwand einer Essenseinladung in Heithoffs Wohnung gelockt und mit den Worten „Zieh die Jacke erst gar nicht aus, geh rein und sei gut wie immer!“ ins Esszimmer gelotst worden, wo ein zuvor instruierter Schauspieler in der Rolle eines Fallmanagers auf ihn wartete.
In Roberts Schoens Roth-Interpretation darf sich Eberle besser vorbereitet durch seine Rolle improvisieren. Er macht sich die Figur des Penners Andreas zu eigen, indem er sie mit biografischen Details anreichert. So kann er zum Beispiel nach 16 Jahren Studium der Musikwissenschaft plausible Analysen von Verdis Oper „La forza del destino“ („Die Macht des Schicksals“) liefern, ebenso wie von Cole Porters Song „Who Wants to Be a Millionaire?“. Beethovens „Pastorale“ illustriert einen Alptraum und Serge Gainsbourgs „Ce mortel ennuie“ Andreas’ Lebensüberdruss. Kommentierender kann man Musik im Hörspiel kaum einsetzen – und doch bekommt sie durch Eberles/Andreas’ analytische Durchdringung eine neue Qualität. Die Musik wird aus ihrer dienenden Funktion befreit und darf (auch) wieder für sich selbst stehen.
Ähnlich funktioniert das Verhältnis von Rolle und Darsteller, die einerseits zwar kaum unterscheidbar ineinander übergehen, andererseits aber auf eine faszinierende Weise nebeneinander stehen. Man fühlt sich von Ferne an dokumentarische Formen des Radios erinnert und weiß doch permanent, dass man sich im Raum der Kunst bewegt. Ohne eine singuläre Figur wie Lorenz Eberle wäre dieses Hörspiel so gar nicht denkbar gewesen.
Regisseur und Autor Robert Schoen hat das Stück, in einer Länge von knapp 50 Minuten, als Stationendrama mit feinem Gespür für Rhythmen, Tempo- und Atmosphärenwechsel montiert, holt den Stoff aus einer etwas verstaubten Literaturtradition und macht ihn wunderbar gegenwärtig. Und Andreas muss am Ende nicht einmal sterben. Bleibt nur zu hoffen, dass Lorenz Eberle nicht immer nur die Loser spielen darf, sondern irgendwann auch mal einen strahlenden Helden.
Jochen Meißner – Funkkorrespondenz 50/2010
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