Wer nichts zu erzählen hat, ist ein Niemand

Die neue 67-teilige Radiofassung von „Tausendundeine Nacht“ erweckt die ältesten Überlieferungen zum Leben. Von bösen Dschinnis über verzwickte Familiensagas bis hin zu grausamem Slapstick entfaltet sich die Welt orientalischer Erzählkunst.

Anonymus: 1001 Nacht

Deutschlandfunk Kultur, Mo-Sa 28.02.-16.05.2025 vor den 17-Uhr-Nachrichten
DLF, Sa, 08. und 15.03.2025, 20.05-22.00 Uhr
DLF Kultur, Sa, 29.03.2025, 19.05 Uhr bis 6.55 Uhr (Lange Nacht)

Die Geschichte der Erzählungen aus Tausendundeiner Nacht ist eine Geschichte voller Missverständnisse. Als die seit dem achten Jahrhundert überlieferten Erzählungen 1704 ins Französische übersetzt wurden, verbreiteten sie sich im europäischen Kulturraum. In ihrer entschärften Form sind sie als Geschichten für Kinder tradiert worden und von da aus ins Arabische zurückübersetzt worden. „Kultur ist immer Austausch und Aneignung“, sagt die Islamwissenschaftlerin und Autorin Claudia Ott, die die ältesten Überlieferungen neu übersetzt hat.

Die beiden Schwestersender Deutschlandfunk und Deutschlandfunk Kultur (Dramaturgie: Sabine Küchler und Julia Tieke) haben daraus eine 67-teilige Serie gemacht, die ab dem 28. Februar von Montag bis Samstag in fünf- bis zehnminütigen Episoden vor den 17-Uhr-Nachrichten auf DLF Kultur gesendet wird. Außerdem wird das gesamte Konvolut in einer langen Nacht vom Samstag, den 29. März bis Sonntag früh um 6.55 Uhr ausgestrahlt. Da werden dann auch ausführliche Gespräche mit der Übersetzerin Claudia Ott, sowie dem Islamwissenschaftler Reinhard Schulze und der libanesischen Dichterin und Aktivistin Joumana Haddad gesendet.

So erfährt man, warum und vor allem wie Claudia Ott die Geschichten übersetzt hat, die im arabischen Raum von Beginn an schriftlich überliefert und öffentlich vorgelesen wurden, was sie von der zunächst nur rhapsodisch mündlich tradierten griechischen Mythologie unterscheidet. Anhand der Gebrauchsspuren kann man erkennen, wo der Vortragende besonders gestikuliert hat, während die andere Hand das Buch umklammert hielt. In die Geschichten sind außerdem Verse integriert, die nach einem besonderen vier-plus-drei-taktigem Reimschema mit sich abwechselnden langen und kurzen Silben gebaut sind, die Claudia Ott metrisch genau so ins Deutsche übersetzt hat. Das Publikum damals habe auf diese Gedichte gewartet, wie heute das Opernpublikum auf die Arien, sagt sie.

Identität durch Erzählung

Der Korpus der Geschichten, die ihren Ursprung in Indien hatten und deren Handlungsorte von Kairo bis Mossul und von Basra bis Aleppo reichen, ist im Laufe der Jahrhunderte immer weiter angewachsen. Und so bilden sich in ihm auch unterschiedlichste gesellschaftliche Konstellationen und Moralvorstellungen ab. Was alle Elemente miteinander verbindet, ist, dass Identitäten darin in Form einer Erzählung gedacht werden. Wer nichts von sich zu erzählen hat, ist ein Niemand.

Die aktuelle Radiofassung ist nicht die erste. Zwischen 1993 und 2002 inszenierte bereits die Filmemacherin Helma Sanders-Brahms insgesamt 17 Nächte, opulent besetzt mit Eva Mattes als Schehrezad, für das Deutschlandradio. Im SWR lief ebenfalls 2002 die vierteilige Serie „Erotische Geschichten aus 1001 Nacht“. Die aktuelle Fassung verzichtet weitgehend auf eine hörspielhafte Dramatisierung und bleibt dicht bei ihrer Erzählerin.

Die Rolle der Schahrasad (= Scheherazade), die den König Schahriyar, dem Erfinder des Femizids, mit ihren nächtlichen Erzählungen davon abhält, sie zu töten, wird von Roxana Samadi übernommen. Jasmin Shakeri und Susana AbdulMajid unterstützen punktuell unter anderem mit Texten im arabischen Original. Judith Lorenz, die die von Safiye Can ausgewählten Geschichten inszeniert hat, hat ihre Hauptdarstellerin viel improvisieren lassen, was leider der Eleganz der Sprache stellenweise empfindlich schadet. Obwohl Claudia Otts Übersetzung besonders gegenwärtig klingen sollte – die letzte vollständige deutsche Übersetzung ist fast einhundert Jahre alt – bringen die Improvisationen doch ab und zu eine falsche Tonalität in die Texte. Dadurch teilt sich auch die Dringlichkeit nicht mit, mit der Schahrasad ihre Geschichten erzählt und sorgfältig ihre Cliffhanger baut, auf dass sie den nächsten Tag noch überleben werde.

Von Frivolität bis Slapstick

Die Geschichten reichen von – dem Sendetermin angepasster – Frivolität bis hin zum grauenhaften Slapstick. Insgesamt fünf Geschichtenkomplexe sind in der aktuellen Radiofassung versammelt. In „Der Kaufmann und der Dschinni“ kann das Leben des Kaufmanns nur durch die solidarischen Erzählungen dreier alter Männer gerettet werden. „Der Träger und die drei Damen“ spielt in einem geradezu sadomasochistischen Setting, in dem sämtliche Akteure erst durch den weisen König Harun al-Rashid erlöst werden können.

In „Der Fischer und der Dschinni“ erweist sich der Geist aus der Flasche alles andere als dankbar über seine Befreiung und wird letztendlich doch überlistet. „Die beiden Wesire Nuraddin von Ägypten und Hasan von Basra“ ist eine verzwickte Familiensaga, die aus nichtigem Anlass eskaliert. Und schließlich ist da „Der Bucklige, der Freund des Kaisers von China“, dessen Tod – der des Buckligen, nicht des Kaisers – sich Vertreter aller Weltreligionen gegenseitig in die Schuhe zu schieben versuchen.

Die Komposition von Philipp Johann Thimm unterstützt die Geschichten atmosphärisch und ohne vordergründig orientalisierende Sounds. Auch wenn man die Episoden nicht einzeln, sondern hintereinander weghört, funktionieren die dramaturgisch auf Spannung ausgelegten Stücke gut.

Immer freitags werden Episodenpakete online zur Verfügung gestellt. Ob „1001 Nacht“ im linearen Radio auch über die sechs Wochentage zur zweiten Primetime (der sogenannten „Drivetime“) um kurz vor fünf funktionieren wird, muss sich noch erweisen. Denn anders als die im letzten Jahr abgeschafften „Wurfsendungen“, die alle unabhängig voneinander funktionierten, muss man hier immer dranbleiben, um den Geschichten folgen zu können.

Jochen Meißner – KNA Mediendienst 27.02.2024

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