Wärme durch Reibung
Die Verleihung des 61. Hörspielpreises der Kriegsblinden
Diesmal wollte man es richtig spannend machen. Erst eine halbe Stunde vor der Preisverleihung am 12. Juni ab 17.00 Uhr in Köln ging die Pressemitteilung raus (Sperrfrist: 18.00 Uhr), wer denn nun Träger des 61. Hörspielpreises der Kriegsblinden werden würde. Nicht einmal die Jury wusste Bescheid, die einige Wochen zuvor nach neuem Reglement drei Stücke nominiert und danach in geheimer Abstimmung den Preisträger bestimmt hatte. Die Entscheidung fiel zwischen den Hörspielen „Mörder“ von Agnieszka Lessmann, „Altersglühen“ von Jan Georg Schütte und „Testament“ von She She Pop. Der Dramaturgie der Preisverleihung hat die Neuerung sicher gutgetan. Von allen drei Nominierten hörte man kurze Ausschnitte ihrer Werke (aber warum immer den Anfang?), dann verlas die Jury-Vorsitzende Anna Dünnebier die jeweilige Begründung für die Nominierung und die Autoren beantworteten Fragen der gut vorbereiteten Moderatorin Ute Soldierer – dann kam der große Moment mit dem Umschlag.
„Ein gutes Hörspiel bewirkt, dass die Ohren sehen.“ So hatte Hans-Dieter Hain, Vorsitzender des Bundes der Kriegsblinden Deutschlands (BKD), in seiner Rede ein arabisches Sprichwort paraphrasiert – ein Motto, das in der Folge noch relevant werden sollte, waren doch zwei der drei nominierten Autoren eher Praktiker des Optischen als des Akustischen. Dass entgegen allen Erwartungen das Fernsehen das Hörspiel nicht verdrängt hat, kann man nicht nur an der Geschichte des Kriegsblindenpreises ablesen, sondern auch an der Vielzahl „bügelnder Hausfrauen und Hausmänner, die Hörbüchern und Hörspielen lauschen“ (Hain). Dass sich die großen Formen des Radios seit einigen Jahren selbst kannibalisieren, wenn man den „ARD Radio Tatort“, das „ARD Radiofeature“ und den gigantischen Etikettenschwindel des sommerlichen „ARD Radiofestivals“ betrachtet, muss man sich dazu denken.
Praktiker des Optischen
Dass das Hörspiel eben nicht nur eine abgeleitete Form des Kinofilms ist, musste der Filmemacher Jan Georg Schütte bei der Produktion seines Debüthörspiels „Altersglühen – Speed Dating für Senioren“ erfahren. Denn was sich im Hörspiel nur schwer mitteilen lasse, so Schütte, seien „die Blicke zwischen den Dialogen“. Der annährend authentischen Aufnahmesituation eines 60-minütigen Speed Datings folgten für den Autor drei Monate Arbeit am Schnitt, um die nötige Verdichtung zu erreichen. Die Jury lobte die Improvisationskunst der Schauspieler, die musikalisch angetriebene Reigenstruktur und die ironische Schlusspointe des Stücks.
Auch Theaterpraktikerin Lisa Lucassen vom Performance-Kollektiv She She Pop musste feststellen, dass man im Hörspiel „unsichtbar“ wird, wenn man nichts sagt. Was eine Umsetzung der Theaterfassung ihres Stücks „Testament“ – bei dem alle Akteure ständig auf der Bühne sind – nicht eben einfacher gemacht hat. Die Metapher von der „Hörbühne“, die in den 1950er Jahren en vogue war, stimmt also ebenso wenig wie die vom „Kino im Kopf“. Die „Spannbreite zwischen Rollenspiel und Realität, zwischen Ökonomie und Gefühl, zwischen liebevollem Witz und roher Härte“ gefiel der Jury, die eine (Qualitäts-)Steigerung beim Hörspiel gegenüber der Theaterfassung erkannte, die zum einen aus der notwendigen Verknappung herrühre und zum anderen ihren Grund in der inhaltlichen Bereicherung durch die Diskussionen bei den Proben habe.
Lediglich Radioprofi Agnieszka Lessmann ging für ihr Hörspiel „Mörder“ von der Soundspur unter anderem der Fernsehserie „Der Kommissar“ (ZDF) aus, was eine zeitliche Einordnung ermöglicht und zugleich die Patina von Stimmen und Sprechweisen hörbar machte. Dass für die Geschichte die Perspektive eines Kindes gewählt wurde, das in den ersten sechs Lebensjahren schon dreimal die Sprache, das Land und seinen Namen wechseln musste, um den antisemitischen Aktionen im Polen des Jahres 1968 zu entkommen, beeindruckte die Jury, die urteilte: „Das nicht Gesagte, die leeren Stellen in den Erinnerungen schaffen einen Zusammenhang, der gegenwärtiger ist als das Ausgesprochene. Der Horror der Vergangenheit, der lauernde Antisemitismus der Gegenwart wird in den ausgesparten Informationen präsent.“
Dann endlich der große Moment: „Testament“ von She She Pop hat den renommierten Preis gewonnen (vgl. FK 24/12). Nun standen aber auch die ‘Nicht-Gewinner’ noch auf der Bühne. Es hat schon seinen Grund, dass bei der Verleihung der Oscars in Hollywood die Nominierten im Publikum sitzen, wenn der berühmte Umschlag geöffnet wird, und sie nicht eine gefühlte Ewigkeit auf offener Bühne verkrampft locker sein oder bedröppelt gucken müssen. Offenbar hat man sich bei den Neuerungen des Reglements davon verführen lassen, dass der Hörspielpreis der Kriegblinden von ahnungslosen Journalisten oft als „Oscar des Hörspiels“ bezeichnet wird; dabei ist er viel eher der Grimme-Preis des Genres. Mit dem Glamour-Faktor eines Oscars ausgestattet ist viel eher der vor zwei Jahren ins Leben gerufene Deutsche Radiopreis, und der wird unter anderem vom Grimme-Institut ausgerichtet. Verkehrte Welt.
Scham als Triebkraft
Problematisch ist es, nur für den kurzen Moment der Spannung auf das zu verzichten, was die Verleihung des Hörspielpreises der Kriegsblinden jenseits des Zeremoniells immer ausgemacht hat: nämlich der Ort zu sein, an dem Autoren Programmatisches zur Gattung Hörspiel und ihrer Ästhetik sagen konnten. Aus den Fünf-Minuten-Statements, um die alle Nominierten vorab gebeten worden waren, wobei dann nur das des Preisträgers verlesen wurde, wird man in künftigen Jahren wohl kaum Sammelbände machen können.
Lisa Lucassen von She She Pop hat sich ihrer Aufgabe allerdings mit Bravour entledigt. Humorvoll und kompetent berichtete sie von den drei großen Unterschieden von Hörspiel und Theater: 1. Man kann jemandem zwar beim Zusehen zusehen, aber nicht beim Zuhören zuhören – was im Weiteren zu Fragen nach der Funktion vom Publikum des Hörspiels und der Entstehung von Öffentlichkeit im Radio führt. 2. Man kann sich im Radio nicht ausziehen, was aber oft elementar für She-She-Pop-Performances ist. Und damit zusammenhängend, 3., ist es gar nicht so einfach, sich im Radio zu schämen.
Scham wiederum ist besonders in den „verspäteten Vorbereitungen zum Generationswechsel nach Lear“ (so der Untertitel des Siegerhörspiels) eine große Triebkraft, wenn man versucht, sich gegenseitig schreckliche Dinge zu verzeihen. Cordelias Maxime aus dem Shakespeare-Drama, ihren Vater zu lieben, „wie’s ihrer Pflicht geziemt, nicht mehr, nicht minder“, war der Ausgangspunkt für das Theaterkollektiv, um offensiv die Grenzen der Ziemlichkeit zu überschreiten. Die von einem der Väter eingeforderte Wärme zwischen den Generationen könne durchaus durch Reibung entstehen, meinte Lisa Lucassen, wenn man denn von der Vätergeneration noch etwas wolle. Profitiert haben She She Pop auch vom Radio, denn sie haben eine ganz neue Perspektive kennengelernt: „dass Hörspiel nämlich nicht Theater ohne Bild ist, sondern dass Theater eine Art Hörspiel mit suboptimalem Timing, zu vielen Atmern, zu wenig Geräuschen und ohne Soundeffekte ist.“
Jochen Meißner – Funkkorrespondenz 26/20112
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