Von Zahlen, Buchstaben, Orten und Zeiten – Das Liquid Penguin Ensemble
„Diesen leidenschaftlichen Hörspielmachern ist kein Thema zu abseitig, keine Fragestellung zu abstrakt. Heraus kommen so filigrane wie anarchische Stücke, die sich in ihrer Fülle immer wieder neu erschließen“, lobte die Jury des Günter-Eich-Preises das Liquid Penguin Ensemble und verlieh ihm den Preis für ihr Lebenswerk.
Als am 7. August auf dem Mediencampus Villa Ida der Medienstiftung der Sparkasse Leipzig die österreichische Featureautorin Franziska Sophie Dorau mit dem Axel-Eggebrecht-Preis und das Liquid Penguin Ensemble mit dem Günter-Eich-Preis für ihre Gesamtwerk ausgezeichnet wurde (VIdeo hier), hätte niemand im Publikum gedacht, dass man noch würde Kopfrechnen müssen. Aber Katharina Bihler und Stefan Scheib, die gemeinsam das Liquid Penguin Ensemble bilden, spielten als Live-Hörspiel den Anfang ihres Stücks „Cyfre oder: Kopf und Zahl“ (Kritik hier) und zählten dabei auf die Beteiligung des Publikums. Stefan Scheib an Kontrabass und digitaler Elektronik begleitete Katharina Bihler an analogen Aufziehweckern und Stimme.
Das alt-französische Wort „Cyfre“ bezeichnet, anders als das deutsche Chiffre oder Ziffer, die Zahl Null. Das Stück inszeniert auf musikalischer Ebene ein mathematisches Problem, die sogenannte (3n-1)-Vermutung des Mathematikers Lothar Collatz aus dem Jahr 1937, die bisher nicht bewiesen werden konnte und die, egal von welcher Ausgangszahl, nach wiederholten Rechenschritten immer bei der Zahlenfolge 4, 2, 1 ankommt – die Null aber nie erreicht.
Diese Folge wird nun musikalisch inszeniert. Und was konzeptionell verkopft scheinen mag, wird zu einem heiteren Spiel mit Tönen und Rhythmen. Die mathematische Grundlage, auf der die Komposition entstanden ist, muss man nicht kennen, sie wird im Hörspiel auch nicht erklärt. Dennoch teilt sich ihre Regelhaftigkeit unterschwellig mit. Das ist es, was das Hörspiel kann, wenn es sich in all seinen Dimensionen ernst nimmt. Und wenn es eine Redakteurin wie Anette Kührmeyer vom Saarländischen Rundfunk gibt, die ihren Autoren solche Freiheiten lässt.
So überführt das Liquid Penguin Ensemble das Abstrakte der Zahlen in die Konkretion der Musik; wie ja auch Zählen und Erzählen eng zusammenhängen. Man denke nur an die vielen Wörter, die Zahlen eingearbeitet haben: „einfältig, zwielichtig, dreifaltig, vierschrötig …“ Überhaupt ist der Begriff der Übersetzung das heimliche Label, das man über fast alle Hörstücke, Inszenierungen, Installationen und Performances des Liquid Penguin Ensembles setzen könnte. Übersetzen, damit ist oft wörtlich das Über-setzen von einem Ufer zum anderen gemeint – beispielsweise vom Gezählten zum Erzählten. Dies sei einer der Grundantriebe des Ensembles, sagt Katharina Bihler: „Übersetzungen zu schaffen, um Verständlichkeit herzustellen – oder auch Verwirrung.“
Orte und Zeiten
Ob von einem See unter der Antarktis wie in der Klangperformance „Lake Vostock“ oder an Bord der Internationalen Raumstation (ISS) im Weltraum wie im Hörspiel „Radio Élysée – Aus Geschichte und Zukunft zweier Raumfahrernationen“. Ob an den Hängen des Stromboli wie im Hörspiel „Felicità – Akustische Vermessungen im Land des Glücks“ oder auf der Wiese vor dem sogenannten „Übersetzerturm“ des Europäischen Gerichtshofs wie im Stück „Sola, sulan, seul – Wörter reisen“ – das Liquid Pengiun Ensemble geht mit seinen Stücken an Orte, die die wenigsten Menschen zuvor im Ohr gehabt haben. Dabei machen die beiden keinen Unterschied zwischen realen und imaginären Orten – wozu auch. Im Hörspiel ist man immer da.
Doch es sind nicht nur die Orte an denen Bihler und Scheib das akustische Glück suchen, es sind auch die Zeitskalen, auf denen sie sich bewegen, um die Welt akustisch einzufangen. Und in welchem Medium könnte man das besser darstellen als in dem, das zeitbasiert eben diese Zeit mal schneller und mal langsamer vergehen lassen kann.
Gras wachsen hören
Ihren ersten Geniestreich schuf das Liquid Penguin Ensemble 2007 mit dem Stück „Gras wachsen hören – das biolingua Institut wird 100 Jahre“. Ausgehend von einer Audio-Installation, bei der Pflanzen verdrahtet wurden, um ihre elektrischen Potenziale zu messen und in Töne umzuwandeln, entwickelten sie ein Hörspiel um das fiktive „biolingua Institut“, das sich mit der Kommunikation zwischen Mensch und Pflanze beschäftigt. Die ist nicht ganz einfach, weil Pflanzen eine ganz andere Wahrnehmungsschwelle haben als Menschen. Der Mensch lässt sich ab 18 „moments per second“ eine flüssige Bewegung vormachen. Bei langsam wachsende Bäumen liegt die Rate von moments per second (mo/s) bei weit unter 1.
So sei denn auch das langsamste Orgelstück der Welt „Organ² / ASLSP“ (as slow als possible) von John Cage, das seit dem Jahr 2001 in der Buchardikirche in Halberstadt aufgeführt wird, weniger ein Musikstück, als vielmehr der Versuch, mit Urweltbäumen zu kommunizieren. Das Stück dauert mindestens bis zum Jahr 2640 – falls sich künftige Generationen nicht entschließen, eine Wiederholung zu spielen. Auf die Antwort der Bäume darf man gespannt sein. Das Stück wurde bei den ARD-Hörspieltagen sowohl mit dem Kritiker- als auch dem Publikumspreis ausgezeichnet.
Auch wenn „Gras wachsen hören“ oft mit der Gattungsbezeichnung „Mockumentary“ bezeichnet wird, war die Absicht alles andere als eine Parodie auf das dokumentarische Genre zu schaffen. Es war vielmehr der Versuch, Welten zu bauen und gleichzeitig die Realität poetisch zu überformen. Denn Realitäten kann man herstellen wie Realismus auch, sagt Katharina Bihler. Das Liquid Penguin Ensemble bespielt die Vorstellungsräume seiner Hörerschaft. Denn genauso real wie das Cage-Konzert in der Buchardikirche, bei dem zu jedem Tonwechsel alle paar Jahre die Fans pilgern, könnte man sich auch einen Besuch des biolingua Instituts am Tag der offenen Tür vorstellen.
Überflüssige Buchstaben?
Mehr noch als die Zahlen sind die Buchstaben und die Wörter Gegenstände der Stücke des Liquid Penguin Ensembles. In ihrem 2015 mit dem Hörspielpreis der Kriegsblinden ausgezeichneten Stück „Ickelsamers Alphabet – Dictionarium der zierlichen Wörter“ treffen der Grammatiker Valentinus Ickelsamer (1500 bis 1547), Autor einer „Teütsche Grammatica, daraus einer von ihm selbst mag lesen lernen“, auf seinen französischen Zeitgenossen Louis Meigret. Beide sind kurz nach Erfindung des Buchdrucks an dem Medienverbund von Schrift und gesprochener Sprache interessiert.
Ickelsamer will aus der Schrift alle jene Buchstaben eliminieren, die man nicht hört, während Meigret in seinem „Tretté de la grammere françoese“ sogar neue Buchstaben entwickelt. Allein den Laut „o“ kann man im Französischen auf mehr als ein Dutzend verschiedene Arten verschriftlichen: o, ô, ot, au, aux, auld, aulx, aut, -ult, eau, eaux, eault und eaulx.
Katharina Bihler schreibt hörend, und zwar so, dass sie sich ihre Wörter so mundgerecht vorlegt, wie es wohl niemand sonst könnte. Duktus und Satzmelodie sind zugleich von einer Weichheit und Genauigkeit, die ihresgleichen sucht. Da war es eine echte Überraschung, als in „Ickelsamers Alphabet“ aus dem Artikulationsapparat der seit Jahrzehnten in Saarbrücken lebenden Autorin, ihre mittelalemannischen Herkunft aus dem Allgäu in Form von härtestem Dialekt hervorbrach. Es ist diese Stimme von Katharina Bihler, ebenso wie die klangliche Fantasie von Stefan Scheib, die die Hörspiele des Liquid Penguin Ensembles wiedererkennbar und unverwechselbar machen.
Die dreiköpfige Jury des Günter-Eich-Preises, der Hörspieldramaturg Thomas Fritz, der ehemalige Hörspielchef des WDR Wolfgang Schiffer und die epd-medien-Redakteurin Diemut Roether lobten: „Diesen leidenschaftlichen Hörspielmachern ist kein Thema zu abseitig, keine Fragestellung zu abstrakt […]. Heraus kommen so filigrane wie anarchische Stücke, die sich in ihrer Fülle beim Wiederhören immer wieder neu erschließen. Wer sich dem Fluss ihrer Gedanken, Kompositionen und Assoziationen überlässt, wird beglückt und vielleicht selbst zu verwegenem Weiterdenken angestiftet. Auf einzigartige Weise haben sie mit ihren Werken den Horizont der Kunstform Hörspiel erweitert.“ Das nächste Hörspiel des Liquid Penguin Ensembles ist bereits in Arbeit. Es wird wieder um Wörter gehen und „Vokabelmeer“ heißen. Die Ursendung soll im Dezember sein.
Katharina Bihler und Stefan Scheib sind die zehnten Preisträger des Günter-Eich-Preises, der alle zwei Jahre vergeben wird. Bisherige Preisträger waren Alfred Behrens, Eberhard Petschinka, Hubert Wiedfeld, Jürgen Becker, Ror Wolf, Friederike Mayröcker, Andreas Ammer und FM Einheit, Paul Plamper und Ulrike Haage.
Jochen Meißner – KNA Mediendienst 09.08.2024
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