Von Menschen und Masken
Marianne Wendt: creating character / Susan Batson. Mit Fragmenten aus Pirandellos „Sechs Personen suchen einen Autor“
Deutschlandradio Kultur, So 23.08.2015, 18.30 bis 19.50 Uhr
Eine der Urszenen des modernen Theaters fand 1921 auf der Bühne des Teatro Vale in Rom statt. In dem Stück „Sechs Personen suchen einen Autor“ von Luigi Pirandello (1934 mit dem Literaturnobelpreis ausgezeichnet) emanzipieren sich Theaterfiguren von ihrem Autor, der sie dramaturgisch nicht ausgeführt und dann verworfen hatte. Sie bitten um Asyl in einem Theater und treffen dabei auf den Widerstand der Schauspieler, die sonst dazu da sind, Figuren zum Leben zu erwecken.
Dieser Regelbruch mit dem illusionistischen Theater ist die Folie, vor der sich Marianne Wendts Hörstück „creating character/Susan Batson“ abspielt. Die Autorin hat dabei auch die Regie geführt. Die Produktion ist die erste Ursendung der neuen Reihe „Spielregeln“, mit der Ulrike Brinkmann, Dramaturgin beim Deutschlandradio Kultur, von August bis Dezember ihren wöchentlichen Sendeplatz bespielt, auf dem es um künstlerische Arbeitsmethoden und -techniken gehen wird.
Marianne Wendt hat einen Masterclass-Workshop, den die 1944 geborene amerikanische Schauspielerin, Produzentin und Schauspiellehrerin Susan Batson in Berlin gegeben hat, beobachtet und Interviews mit den Teilnehmern mit theoretischen Äußerungen von Susan Batson (gesprochen von Leslie Malton) und Luigi Pirandello (gesprochen von Leopold von Verschuer) verschnitten. Batsons grundlegende These ist, dass Menschen von denselben Fakten, Entscheidungen und Empfindungen angetrieben, gepeinigt und erlöst werden, die auch fiktionale Figuren antreiben. Deswegen wolle man als Zuschauer nicht die Schauspieler, sondern sich selbst sehen.
Die häufig unbewussten Bedürfnisstrukturen von Figuren (und Menschen) nennt Susan Batson „need“. Dieses „need“ bestimmt ihre „public persona“, jene Maske, die das Gesicht trägt, das man der Öffentlichkeit zeigt, und die das private Ich verdeckt. Das Verhältnis von „need“ und „public persona“ beinhaltet ein verborgenes zerstörerisches Potenzial, das sich in der dritten Dimension einer Figur zeigt, dem sogenannten „tragic flaw“ – was sich in etwa mit Beschädigung, Mangel oder Charakterfehler übersetzen lässt.
Zwischen der konzeptionellen Künstlichkeit, die den Ausgangspunkt von Pirandellos Theatertext bildet, und Batsons Forderung, „to create a walking, talking human being“, besteht ein widersprüchliches Verhältnis. Der Riss zwischen den Anforderungen der Künstlichkeit und der Natürlichkeit geht mitten durch den Schauspieler. Dessen Persönlichkeit äußert sich in einem sogenannten „private moment“, jenem intimen Moment, in dem der Schauspieler seine Persönlichkeit auf offener Bühne entblößt und der für das Publikum entweder sehr intensiv oder etwas unangenehm sein kann.
„Creating character/Susan Batson“ ist ein hybrides Hörstück zwischen Hörspiel, Feature und Reportage, das die verschiedenen Dimensionen der schauspielerischen Arbeit reflektiert. Denn Techniken, Arbeitsweisen und Ideologien des Schauspielens unterliegen einem historischen Wandel. War im antiken Griechenland die „persona“ noch die Maske, die den Schauspieler zur Figur machte, ist laut der Psychoanalyse C.G. Jungs dem Menschen (wie der Theaterfigur) die Maske ins Gesicht gewachsen. Das manierierte Rollenspiel wurde schon zu Ende des 19. Jahrhunderts vom Realismus eines Ibsen oder Strindberg abgelöst – und natürlich kann auch dieser Realismus eine ideologische Maske sein. Die Frage „Wer spricht?“ stellt sich in Marianne Wendts Hörstück auf immer wieder neue und andere Weise.
Für Susan Batson hat Schauspielen nichts mit Darstellung zu tun, denn dann verkaufe der Schauspieler lediglich seine Persönlichkeit. Das Schauspielen im emphatischen Sinn hat für sie immer mit einer Verwandlung zu tun, in der der Schauspieler seine Instrumente einsetzt: Körperlichkeit, Intelligenz, Phantasie, Emotion, sensorische Fähigkeiten und Einfühlungsvermögen. „Need“, „public persona“, „tragid flaw“ und „private moment“ sind für Susan Batson die Eckpfeiler ihrer Schauspiellehre und für sie unabhängig von Sprache, Epoche und Kultur. Das kann man durchaus anders sehen und auf soziale und mediale Anforderungen hinweisen, die Schauspiel als Beruf sonst noch bestimmen. Nach den 80 Minuten von Marianne Wendts Stück weiß man aber einiges mehr über die komplexen Prozesse, einen Charakter zu kreieren.
Jochen Meißner – Medienkorrespondenz 18/2015
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