Über Gewächse, Krisen und Rückzüge
Hans Magnus Enzensberger: Herr Zett
HR 2 Kultur, So 30.3.2014, 14.05 bis 15.25 Uhr
Zu Beginn des Hörspiels ist er offenbar schon seiner Wege gegangen, der kleine (nur 1,65 Meter große), etwas rundliche Herr Zett mit dem Bowler-Hut, den man sich in etwa so vorstellen kann wie Udo Samel, der ihn spricht. Doch was Herr Zett einen Sommer lang auf einem von Hainbuchen umsäumten Platz im Englischen Garten gesagt hat, das klingt auch in den Erinnerungen seiner Gesprächspartner (Zeugen genannt) verdächtig nach seinem Autor Hans Magnus Enzensberger. „Herrn Zetts Betrachtungen oder Brosamen, die er fallen ließ, aufgelesen von seinen Zuhörern“, heißt das 230 Seiten dicke Buch (Suhrkamp-Verlag), das in 259 Kleinkapiteln Reflexionen über das Ganze – das es nicht gibt – und das Nebensächliche präsentiert.
In Ulrich Lampens 80-minütiger Hörspielinszenierung werden daraus 16 Auftritte und der erste beginnt mit einer Technik, der wir die Überlieferung verdanken: dem Schreiben. Oder genauer formuliert: dem Reden, dem Mitschreiben und dem Lesen – im Hörspiel ergänzt um das Vorlesen, das heißt den dramatisierten Vortrag. Es sind in der Hauptsache zwei Zeugen (Felix von Manteuffel und Peter Fricke), ein paar Experten, eine ständige Fangemeinde und einige Gymnasiasten, die Herrn Zett die Stichworte geben. Ab und zu widersprechen sie ihm und lassen sich von seinen eleganten Plaudereien unterhalten. So zum Beispiel mit der Frage, was ein Loch sei. Kurt Tucholsky hatte sich in der Glosse „Zur soziologischen Psychologie der Löcher“ schon damit beschäftigt und die Beatles in ihrem Film „Yellow Submarine“. Enzensberger, ein Freund der Mathematik, wählt den Weg über die Topologie – eine Teildisziplin der Mathematik, die Körper je nach ihrer Löchrigkeit in Geschlechter einteilt. Eine Kugel hat das Geschlecht 0, eine Röhre das Geschlecht 1 und so weiter. Unter Geschlechtern hatten sich Herrn Zetts Hörer immer etwas anderes vorgestellt, aber zur Sexualität hält sich Herr Zett bedeckt.
Das Wachstum, die Krise, der Fortschritt, der Anti-Amerikanismus, die Offenbarungen, die Spekulation, das Ganze und die Vielfalt und außerdem die Frage, warum die Dummen nicht aussterben, sind Themen, über die Herr Zett sich so seine Gedanken macht und zu denen ihm immer ein paar merkenswerte Sentenzen einfallen. „Es ist besser, auf alles gefasst zu sein, sogar darauf, dass es gar nicht eintritt“, kommentiert er gelassen den medial verstärkten Alarmismus gegenwärtiger Notlagen und Krisen. Zugleich lobt er die Institution des Botanischen Gartens und wundert sich, dass eine „utopische Einrichtung, die nicht die geringste Rendite abwirft, in einer sozialdemokratischen, kapitalintensiven, durch und durch kontrollierten Zivilisation überleben kann.“ Die Gewächse wissen, wann es genug ist mit dem Wachstum. Bei einer Wachstumsrate von fünf Prozent pro Jahr wäre beispielsweise eine hundertjährige Buche 640 Meter hoch.
Zwischen all den Diskursen, die das Stück durchziehen, gibt es immer wieder unterirdische Verbindungen. So ist die Frage nach der individuellen Dummheit mit der Frage verknüpft, warum Kollektive so wenig lernfähig sind: „Ein Weltkrieg hat nicht genügt, um den Deutschen klarzumachen, dass es keine glänzende Idee war, die Weltherrschaft anzustreben. Davon musste sie erst ein zweiter Weltkrieg überzeugen und auch den haben sie bis zum letzten Volkssturmpimpfen geführt.“ „Der Rückzug“, zitiert Enzensberger den preußischen Militärtheoretiker Carl von Clausewitz, „ist die schwierigste aller Operationen.“ Er ist insbesondere dann mit extrem hohen Kosten verbunden, wenn vorher ein Ganzes, eine Totalität, in Anschlag gebracht wurde, um zur Durchsetzung von Zielen zu motivieren: „Wer so etwas angezettelt hat, dem geht es nicht mehr darum, die Verluste zu minimieren, sondern darum, sein Prestige zu retten, das er mit seiner Ehre verwechselt.“ Es sind solche klaren und durchdachten Sätze, für die es sich lohnt, Herrn Zett zuzuhören.
Doch manchmal neigt er auch zum unkontrollierten Räsonieren und manches ist ihm einfach gleichgültig, wie zum Beispiel das totalitäre Kontrollbedürfnis der Geheimdienste. Die Schlapphüte seien durch Algorithmen ersetzt worden, die ebenso borniert und lächerlich seien. NSA, CIA, BND – das seien alles nur Abkürzungen die in riesigen Bunkern säßen, die früher oder später unter ihrem eigenen Gewicht zusammenbrächen. Dass ein so präziser Denker wie Enzensberger hier die Kategorien so sorglos durcheinanderwürfelt, verblüfft dann doch.
Ob das Buch zum Hörspiel werden musste? Vielleicht, wenn man es mit Kopfhörern auf einem Spaziergang im Englischen Garten hört. Im Herbst erscheint das Stück im Hörverlag auf CD. Bis dahin kann man sich auch getrost mit dem Buch auf eine Parkbank setzen.
Jochen Meißner – Funkkorrespondenz 16/2014
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