Trotz Skriptdoktorei ein wenig anstrengend
Tia Morgen: Desire – Über Sex, Arbeit und queeres Begehren
WDR 1 Live, Doppelfolgen jeweils montags, 25.09., 02.10. und 09.10.2023, 22.00 bis 23.00 Uhr.
In Tia Morgens sechsteiliger Serie „Desire“ erzählen drei queere Sexarbeiterinnen aus der Ich-Perspektive aus ihrem (Berufs-)Leben, „ohne Voyeurismus, Romantisierungen oder Opfer-Darstellungen“, wie es heißt. Das stimmt nur teilweise.
„Wollen Sie tatsächlich von uns behandelt werden wie ein nervenkranker Verwandter, schonend?“, fragt der Moderator der fiktiven Kulturwelle FDR 2 in Rafael Jovés Hörspiel „Das Radio ist nicht Sibirien“ aus dem Jahr 2012 (Kritik hier). Die Antwort kann man sich schenken, denn als Triggerwarnungssender Nummer eins leitet der Westdeutsche Rundfunk jede der 30-minütigen Folgen seiner Podcastserie „Desire“ (ARD Mediathek) von Tia Morgen ritualisiert mit einem immer leicht modifizierten Hinweis ein – natürlich erst nach einem szenischen Einstieg, bei dem schon mal stöhnend in das Setting, ein Bordell, eingeführt wird.
Es soll ebenso um Lust und Begehren wie auch um Ausbeutung und Gewalt gehen und ein Mal wird vor „expliziten Beschreibungen trans- und queerfeindlicher Gewalt“ gewarnt, „die besonders aufwühlend sein können“. Die wirklich wichtige Warnung wird aber nur einmal zu Beginn der ersten Folge ausgesprochen: „Die Welt, in die ich dich hier mitnehme, ist eine fiktive Welt.“ Denn was Tia Morgen aus Gesprächen mit mehr als 30 queeren Sexarbeiterinnen aus 14 Ländern gemacht hat, ist ein fiktionales Produkt, das mit der Anmutung von Authentizität spielt, die „auf einer langen Recherche und unzähligen Gesprächen und Begegnungen mit queeren Sexarbeiter*innen beruht“. Ob sie auch mit deren Kunden gesprochen hat, wird nicht verraten.
„Ohne Voyeurismus, Romantisierungen oder Opfer-Darstellungen“ werde hier erzählt, verrät die WDR-Website und außerdem werden noch die Webadressen von gleich fünf Beratungsstellen aufgelistet (aber nicht verlinkt). In der ARD-Audiothek wird „Desire“ als das bezeichnet, was es ist: eine „LGBTIQ+-Soap-Serie“. Statt also die üblichen Klischees zu bedienen, die über den Beruf der Prostituierten kolportiert werden und die nicht selten in der Forderung nach Abschaffung der legalen Prostitution gipfeln, bedient man einfach andere Klischees, nämlich die aus dem Repertoire der Seifenoper, einem Genre das übrigens seinen Ursprung im amerikanischen Radio hatte.
Da ist die tränenreiche Selbstfindung von Sam (Joy Grant) als Lesbe, obwohl sie seit sieben Jahren in einer festen heterosexuellen Beziehung lebt und eine fünfjährige Tochter hat. Da ist das Escort-Girl Lilli (Jasko Fide), das lieber im Bordell arbeiten will, weil sie weniger mit den Kunden reden will und auch Probleme hat, ihrer Mutter und Großmutter von ihrem Beruf zu erzählen. Und schließlich ist da Robin (Newroz Çelik), Transfrau mit männlicher Stimme, bei dem es seine Freundin Cleo (Eva Maria Jost) ist, die Probleme mit seinem Job hat und der heimlich in Kollegin Lilli verliebt ist.
Drei Script-Consultants und Sensitivity-Reader, zwei Dramaturginnen und drei dramaturgische Berater haben das Manuskript lektoriert, wie die Abmoderation nach der sechsten Folge verrät. Das hat zur Folge, dass zwar diverse Mehrfach-Diskriminierungen (zum Beispiel Robin als Sexarbeiterin plus Transfrau plus Kurdin) auf der Bingo-Karte abgehakt werden können, ohne dass es dabei aber allzu aufdringlich wird. Auch dass Sam als schwarze Prostituierte mit ihrem Afrolook nicht so einfach im Bordell Aufnahme findet, sondern sich als Latina verkaufen muss, wird kurz erwähnt. Im Film sähe man die Problemlage auf den ersten Blick. In ihrer Stimme ist die Hautfarbe nicht hörbar und wird auch erzählerisch nicht eingefangen. Fremde Sprachen oder Akzente kommen nur punktuell vor. Paradoxerweise klingt in der sonst als bunt geframten queeren Welt alles sehr weiß.
Was hörbar wird, ist wie gut die drei Hauptfiguren den Jargon der Eigentlichkeit beherrschen. Regie führte neben der Autorin Tia Morgen noch Tara Afsah, und Nick-Julian Lehmann hatte auch noch seine Finger mit drin. So gute O-Ton-Geber wie das Haupt-Schauspieltrio würde sich mancher Feature-Autor wünschen – aber was zu schön ist, um wahr zu sein, ist in der Regel eben nicht wahr.
Die Nebenfiguren fallen demgegenüber deutlich ab. Entweder weil sie zu professionell geschult klingen wie Eva Meckbach als Bordellbetreiberin Bea, oder allzu amateurhaft, wie die Kunden der Prostituierten, die fast alle mit viel zu jungen Stimmen besetzt sind. Außerdem sind sie gierig, übergriffig oder sonst irgendwie creepy. Wenn sie sich aber zu sehr für die Person hinter der Dienstleistung oder für deren Arbeitsbedingungen interessiert zeigen, sind sie entweder zu blöd, um Grenzen zu respektieren oder nicht in der Lage, den Ausbeutungsvorgang, an dem sie beteiligt sind, angemessen zu reflektieren.
Die Strategie, eine Gruppe zu „empowern“ (die Prostituierten), indem man ihr notwendiges Gegenüber (die Kunden) von vorneherein ins Unrecht setzt, erweist sich erwartbar als nicht besonders erfolgversprechend. Ebenso wenig wie die Masche, das eine Begehren in aller Differenziertheit zu feiern und das andere zu entwerten.
Eines muss man sich immer wieder vergegenwärtigen: Hier wird kein gesellschaftlicher Konflikt dramatisch ausgetragen, hier lauscht man einer Seifenoper und da sind die Rollen klar verteilt. Was aber all die Skriptdoktorei nicht verhindert hat: Alle drei Hauptfiguren werden einem bei all ihrer Komplexität im Laufe der Serie nicht eben sympathischer. Die Welt wird von den Akteuren, die als „self-centered“ ausreichend beschrieben sind, stets als persönliche Zumutung empfunden. Und das macht alles ein wenig anstrengend.
Empowerment war wohl auch die Devise von Hanna Elizabeth Bratton alias Breezy, die einen Soundtrack zwischen Hip-Hop und Neo-Soul zusammengestellt hat. Er ist auch als Playlist mit 39 Titeln auf Spotify verfügbar. Erstaunlicherweise klingt das trotzdem ziemlich homogen. Auch wenn Sade und Beyoncé vorkommen, werden besonders queere Künstlerinnen gefeatured. Da gibt es englisch-, französisch- oder spanischsprachige Entdeckungen von Sho Madjozi bis Rosalía zu hören, aber auch deutschsprachigen Kitsch von Weil bis Yael.
So etwas wie „Desire“ kommt offensichtlich dabei heraus, wenn man dem Storytelling das Primat vor Thema und Inhalt einräumt. Weiß man als aufmerksamer Medienkonsument nach knapp drei Stunden der sechs Folgen mehr oder anderes über die Prostitution als vorher? Wahrscheinlich nicht. Ist man danach gut unterhalten? Wenn man aufwendig produzierte Seifenopern und Hip-Hop mag, möglicherweise schon.
Jochen Meißner – KNA Mediendienst 26.09.2023
zum Vergleich: Stefan Fischer: Eine Frage der Perspektive in der SZ vom 01.10.2023
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