Eleganz und Drastik

Virginie Despentes: Liebes Arschloch

SWR 2, So, 01.10.2023, Di, 03.10.2023, jeweils 18.20 bis 19.35 Uhr

Wie geht man mit den Dynamiken um, die eine Debatte um den Hashtag #MeToo in den Sozialen Netzwerken ausgelöst hat? Die französische Autorin Virginie Despentes hat mit ihrem Briefroman „Liebes Arschloch“eine eigene Antwort gefunden – und die funktioniert sogar als Hörspiel.

Und er hatte sich doch so bemüht, alle Klippen zu umschiffen. Keine Fehler machen, pünktlich die Miete zahlen, Abendessen mit Politikern ausschlagen, sich von Dealerfreundschaften fernhalten und zu Antisemiten, Homophoben, Vergewaltigern und Rassisten, die nicht über das bürgerliche Vokabular verfügen, auf Distanz gehen. Als zum erfolgreichen Schriftsteller aufgestiegener Sohn eines Stahlarbeiters weiß Oscar Jayack, dass es jederzeit zu Ende sein kann, wenn man ohne Privilegien auf die Welt gekommen ist.

Doch eines hat das „Liebe Arschloch“, die Titelfigur von Virginie Despentes Briefroman (Leseprobe) , den Rebekka David als 150-minütiges Hörspiel in zwei Teilen inszeniert hat, nicht bedacht: die Frauen. Das Unheil nimmt seinen Lauf als Oscar in einem Instagram-Post die Schauspielerin Rebecca Latté als verlebtes und schmuddeliges altes Weibsstück beschimpft. Doch die keilt heftig zurück.

Oscar löscht umgehend den Post, und es ergibt sich ein längeres Gespräch, denn die beiden kennen sich von früher. Rebecca war die Freundin von Oscars Schwester Corinne, als der noch nicht unter dem Künstlernamen Jayack auftrat. Doch bald platzt die zweite Bombe. Die ehemalige Pressereferentin seines Verlages, Zoé Katana, gegenwärtig eine einflussreiche feministische Bloggerin, packt aus und beschuldigt Oscar vor Jahren übergriffig geworden zu sein und ihre Karriere zerstört zu haben.

Von hier aus könnte man die Mechaniken der Empörung abbilden, die man getrost einem Algorithmus überlassen könnte. Ebenso zwangsläufig wie vorhersehbar greifen Bagatellisierungen und Dämonisierungen, Solidaritätsadressen und Verdammungen in den Automatismen der öffentlichen Kommunikation ineinander. Und die Logik der Aufmerksamkeitsökonomie erfordert eine ständige Eskalation. Am Ende fordert man, dass Oscar sämtliche Einnahmen aus seinen Büchern Zoé überlassen und sich als Kompensation einen Finger abschneiden soll.

Man könnte sich gut vorstellen, das anhand des Falls Oscar Jayack ein Exempel statuiert werden soll, um die misogynen Verhältnisse anzuprangern. Doch das ist nicht das Interesse von Virginie Despentes, die eben keine Pappkameraden für einen Thesenroman aufgestellt hat, sondern sich für ihre Figuren interessiert und ihnen Entwicklungen und Lernprozesse zugesteht. Und das ist für eine Struktur von medialer Öffentlichkeit, die auf der Verhärtung der Standpunkte besteht, keine Kleinigkeit.

Was nun die Bearbeiterin und Regisseurin Rebekka David, die für ihre Hörspielinszenierung von Katharina Volckmers Roman „Der Termin“ 2022 mit dem Deutschen Hörspielpreis der ARD ausgezeichnet wurde, aus Despentes‘ 336-seitigem Roman gemacht hat, ist beeindruckend. Mit Tilman Strauß als Oscar Jayack, Anna Schneider als Rebecca Latté und Gro Swantje Kohlhof als Zoé Katana entwickelt das Stück einen Sog, dem man sich weder entziehen kann noch mag. Eben weil die Figuren den erwartbaren Stereotypen zugleich entsprechen und nicht entsprechen, und weil sie zugleich Träger von Sympathien und Antipathien sind, hat es offenbar Spaß gemacht sie zu spielen.

Das „Liebes Arschloch“ nicht nur eine Anredeformel, sondern auch eine ziemlich genaue Personenbeschreibung sein kann, weiß man nach den 150 Minuten. Als zentrale männliche Figur in einem mehrheitlich von Frauen bevölkerten literarischen Universum, darf Oscar etwas über sich lernen, ohne in Schimpf und Schande zu Kreuze kriechen zu müssen.

Die Welt um Oscar herum – mehr als zwanzig Rollen – hat Rebekka David lediglich mit drei Stimmen (Jule Böwe, Gina Henkel und Julius Feldmeier) besetzt. Das gibt dem Ganzen einerseits eine gewisse Homogenität und andererseits eine überraschende Variabilität. Geflüsterte Überlagerungen und Kommentierungen schärfen das Gehör und richten die Aufmerksamkeit auf jene Vielstimmigkeit, die auch ein subvokalisierendes Lesen nicht erreichen kann. Zugleich wird dadurch eine leichte ironische Distanz gegenüber der Vorlage ermöglicht, die ganz nebenbei die Abmoderationen zu einem charmanten Teaser für den zweiten Teil macht. Der Theater- und Filmmusiker Camill Jammal verbindet mit seiner Komposition unaufdringlich die verschiedenen Orte und Diskurse miteinander.

Virginie Despentes hat ein Faible für eine gewisse Eleganz in ihrer Drastik und das Vergnügen an der Sprache. Ihr Witz teilt sich auch in der Übersetzung von Ina Kronenberger und Tatjana Michaelis unmittelbar mit.

Im Hörspiel geht es natürlich nicht nur um die Geschichten von Oscar, Rebecca und Zoé, sondern auch um einen in patriarchalen Mustern agierenden Feminismus. Dazu gehören auch die kognitiven Dissoziationen, zu denen Frauen gezwungen sind – und die in Extremfällen in die Psychiatrie führen können. Außerdem geht es nicht zu knapp um Drogen in verschiedenen Dosierungen und Darreichungsformen, sowie um die ihnen zugrundeliegende Suchtstruktur, die auch auf bestimmte Medienphänomene in den Sozialen Netzwerken übertragbar sind.

Nach dem Konsum des 150-minütigen Hörspiels ist einem vielleicht ein bisschen schwindelig, aber als Nebenwirkung bleibt die Erkenntnis, dass es doch auch anders gehen könnte, als von Erregungszustand zu Erregungszustand zu taumeln.

Jochen Meißner – KNA Mediendienst, 05.10.2023

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