Stimme und Pause
Ronald Steckel: Der Brief an Winston Smith
Nordwestradio (Radio Bremen/NDR), So 09.02.2014, 17.05 bis 17.55 Uhr
Da ist ein Mann, der spricht. Rund 50 Minuten lang. Dicht am Mikrofon. Der Sprachduktus ist ruhig, gleichsam tastend. Alle paar Sätze unterbrochen von den klackenden Ein- und Ausschaltgeräuschen seines Aufnahmegeräts. Dazwischen Pausen. Unterschiedlich lang. Der Sprecher formuliert einen an Winston Smith gerichteten akustischen Brief, den er in den Äther senden will. Denn anders als über eine spirituelle Verbindung wird der Brief seinen Adressaten nicht erreichen können. Denn er richtet sich an eine Fiktion: an die Hauptfigur von George Orwells dystopischem Roman „1984“. Der Autor, Regisseur und Komponist Ronald Steckel, den man hinter dem Verfasser und Sprecher des Briefes vermuten darf, teilt mit Winston Smith das Geburtsjahr 1945.Ronald Steckels Hörspiel (eine Autorenproduktion für Radio Bremen) beginnt mit den wenigen Zeilen eines Abschiedsbriefs von Winston Smith vom 4. April 1984: „Aus dem Zeitalter der Einsamkeit, aus dem Zeitalter des großen Bruders, aus dem Zeitalter der Gedankenpolizei sendet euch ein toter Mensch Grüße.“ Was erzählt ein lebender Mensch einem fiktiven Toten, mehr noch: einer fiktiven Figur, die den eigenen Tod nur imaginiert? Orwells Roman endet ja nicht mit Winstons Tod, sondern mit der Vernichtung der Persönlichkeit durch Gehirnwäsche und Folter. An wen wendet sich Steckel also genau? An das Bild, das Winston Smith von sich hat, an die von George Orwell geschaffene Figur oder gar an sich selbst?
Nur oberflächlich betrachtet ist die Konstruktion des Hörspiels eine einfache. Divergierende literarische Formen und Techniken wie die des Briefromans, des Totengesprächs oder scheinbar beiläufiger Notate eines Tagebuchschreibers werden von einer einzigen Instanz zusammengehalten, der ruhigen Stimme des Autors. Der spricht sehr reflektiert über seine Lebenserfahrungen in einer freien Gesellschaft und stellt sie den Bedrängungen einer totalitären gegenüber. Bedrängungen, die auch heute alles andere als fiktiv sind. Die nordkoreanische Gesellschaft zwischen Militarismus und Hunger, Führerkult und Folterlagern ist wie nach der Blaupause Orwells verfasst.
Glaubt man dem Hörspiel, dann ist der Text zwischen dem 23. April und dem 3. Mai 2013 entstanden. Das ist insofern relevant, als dass er somit wenige Wochen vor den Enthüllungen Edward Snowdens entstand, der die totale Überwachung aller Informationsströme durch die Geheimdienste NSA und GCHQ und der anderen Behörden der Allianz der sogenannten „Five Eyes“ (USA, Großbritannien, Kanada, Australien, Neuseeland) öffentlich machte. Diese Länder entsprechen übrigens genau dem Staatsgebilde „Ozeanien“ aus Orwells Roman. Die „Telescreens“, die dort permanent und sichtbar alle Parteimitglieder überwachen, tragen heute weite Teile der Bevölkerung als Smartphone stolz und freiwillig mit sich herum – eine Sensorenphalanx zur akustischen und optischen Überwachung und Ortung. „Du entscheidest, wer Zugang hat zu deinem inneren Raum“, sagt Steckel, die technischen Möglichkeiten von Big Data zur Analyse und Prognostizierung von menschlichem Verhalten ignorierend. Wie wir spätestens seit Snowden wissen, ist es heutzutage niemandem mehr möglich, sich aus den digitalen Verhältnissen auszuklinken – auch das ein Unterschied zur Welt des Winston Smith.
Ronald Steckel erzählt Winston von unserer Epoche als einem „ekstatischen Moment in der Geschichte“, in dem noch nie so viele Menschen von der Freiheit profitiert haben, die nicht zuletzt durch das Netz, das ungeheure elektronisch-kybernetische Nervensystem, erzeugt wird – und er erzählt auch von den enormen Mengen an Angst, die damit einhergehen. Dem negativen Sog der Orwellschen Dystopie erliegt Steckel dabei erfreulicherweise nicht.
Der Antrieb oder besser die Hoffnung, die Ronald Steckel mit seinem Brief an Winston Smith verknüpft, ist, dass das Glück des einen das Unglück des anderen auslöschen oder zumindest mildern kann. Das mag man für naiv oder für ein bisschen kitschig halten, aber die Empathie, mit der Steckel der Figur des Winston Smith gegenübertritt, teilt sich unmittelbar mit. Dazu braucht es nur zwei hörspielästhetische Mittel: die Stimme und die Pause, wobei die Pausen hier nie affektiert oder bedeutungshuberisch rüberkommen.
Außerdem legt Steckel seinem Brief ein paar wenige Soundschnipsel bei – eine in kritischer Absicht erstellt Collage aus übereinandergeschichteten Fernsehtönen sowie eine affirmative aber ganz ähnlich klingende Collage mit Tönen von Martin Luther King. Dazu noch ein paar Sätze des Historikers und KZ-Überlebenden Otto Dov Kulka sowie eine eigene Komposition aus elektronischen Klängen, die sich mit „der Herstellung von Stille“ beschäftigt. Mehr ist auch nicht nötig.
Jochen Meißner – Funkkorrespondenz 7/2014
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