Stilübungen

Lothar Trolle: Judith

Deutschlandfunk, Di 21.01.2014, 20.10 bis 21.00 Uhr

18 Seiten Fließtext, nur gegliedert durch eingeklammerte Leerstellen „(   ) (   )“, umfasst der Theatertext „Judith“ des Dramatikers Lothar Trolle, der am 22. Januar seinen 70. Geburtstag gefeiert hat. Manche Abschnitte sind vollständig in Versalien gesetzt und durch Schrägstriche in kleinere Sinneinheiten aufgeteilt. Der Text enthält dialogische Szenen, chassidische Wundergeschichten, jüdische Witze und dokumentarisches Material. Bei solch einer Vorlage sind die inszenatorischen Möglichkeiten weitaus größer als bei den Texten, die sich an die überkommenen Theaterkonventionen halten oder Radioformate bedienen. Regisseur Walter Adler hat sich vorgenommen, auf dieser Textgrundlage zu zeigen, was das Hörspiel kann – und zwar alles, was das Hörspiel kann.

Wenn es der Schnitt so will, wird im Hörspiel nicht geatmet. So abstrahiert man vom natürlichen Duktus der menschlichen Stimme. Wenn man Texte von hinten nach vorne sprechen lässt, um die Wörter danach wieder in der richtigen Reihenfolge zusammenzusetzen – Walter Adlers geniale Erfindung aus dem im vorigen Jahr mit dem Hörspielpreis der Kriegsblindenpreis ausgezeichneten Stück „Oops, wrong Planet!“ (vgl. FK 43/12) –, dann bekommen die Wörter und Sätze einen ganz eigentümlich Klang. Außerdem kann man denselben Text in verschiedenen Sprechhaltungen aufnehmen und diese ineinander verschachteln. Man kann sie aber auch chorisch sprechen und singen lassen.

Auch die Aufteilung des Textes auf verschiedene Rollen ist ein legitimes inszenatorisches Verfahren – im Hörspiel „Judith“ sind es gleich 25 Schauspieler, darunter zwei Erzähler- und zwei Chronistenrollen. Die von Trolle in seinen Text einmontierten deutschsprachigen Zitate werden in den jeweiligen Originalsprachen (hier Hebräisch, Russisch, Jiddisch, Arabisch) unter die Übersetzung gelegt – auch das ein angemessenes Verfahren. Eine Originalkomposition (hier von Pierre Oser) gehört natürlich auch dazu. Geräusche können als illustrative Klangtapete oder als musikalische Akzente eingesetzt werden.

All diese Mittel und noch ein paar mehr hat Walter Adler in seiner „Judith“-Inszenierung eingesetzt. Doch so gut jedes einzelne Element für sich funktioniert, so überinstrumentiert wirkt es im Gesamtzusammenhang des rund 50-minütigen Hörspiels. Vor ein paar Jahren hätte man dieses Verfahren noch als postmodern bejubelt, heute ist man der Hier-noch-ein-Erkerchen-und-da-noch-ein-Türmchen-Ästhetik gegenüber skeptischer. Wenn schon der Text, der, wie oft bei Lothar Trolle, mit verschiedenen Erzählformen arbeitet, auf die Überblendung von Geschichte und Gegenwart setzt und mit intertextuellen Bezügen spielt, dann ist ein Inszenierungskonzept, das diese Vielfalt der Formen durch eine Vielfalt der Mittel zu realisieren (und zu übertönen) versucht, zwar denkbar ambitioniert, aber am besten nur in kleinen Dosen genießbar.

Trolles Text handelt von der 400-jährigen Geschichte von Vertreibungen und Drangsalierungen des jüdischen Volkes, die sich schon in der historischen Überlieferung in der Figur des Holofernes kristallisierte. Der assyrische Feldherr betreibt einen Eroberungs- und Vernichtungskrieg im Auftrag seines Herrn Nabu-kudurriusur, was übersetzt „Nabu-Schütze-meinen-Erstgeborenen“ heißt oder in einer anderen Übersetzungstradition und auch in diesem Hörspiel „Nabu-Schütze-meine-Grenze“.

Hinzu assoziiert werden der Auszug des jüdischen Volkes aus Ägypten und – was für eine Provokation in diesem Zusammenhang – das erste von Juden begangene Massaker durch Simeon und Levi an allen männlichen Einwohnern der Stadt Sichem (Buch Genesis, Kap. 34). Eine Schlächterei, die in Walter Adlers Inszenierung beinahe komisch rüberkommt und die außerdem noch mit dem O-Ton der Fußballreportage des WM-Endspiels von 1954 zwischen Ungarn und Deutschland unterlegt wird – warum bloß? Auch hier siegt, wie oft in diesem Hörspiel, der akustische Effekt über die intellektuelle Genauigkeit. Ähnlich fragwürdig ist der Einsatz von Schillers Freiheitshymne „Wohlauf, Kameraden, aufs Pferd, aufs Pferd!“, die den Truppen von Holofernes in den Mund gelegt wird, wahrscheinlich weil’s so schön militärisch klingt.

Die Titelheldin Judith taucht im Hörspiel erst ab Minute 32 auf und der eigentliche Akt der Enthauptung des Holofernes (gesprochen Andreas Grothgar) findet eher beiläufig statt – illustriert mit dem naturalistischen Geräusch eines Schwerthiebs –, vermutlich aus einer Klangbibliothek entnommen. Gesprochen wird die Judith von Corinna Harfouch, die schon 1997 in Lothar Trolles großartigem Hörspiel „Annas zweite Erschaffung der Welt oder Die 81 Minuten des Fräulein A.“ brillierte (vgl. FK 3/98, Wiederholung am 28.01.14 im DLF) und dafür damals auf der Berliner Woche des Hörspiels den Preis der Publikumsjury bekam.

Im Massenmedium Radio finden, anders als viele Programmverantwortliche wähnen, auch komplexe Kunstwerke wie zum Beispiel die eines Lothar Trolle ihr Publikum. Und die Kunst ist keine pädagogische Veranstaltung. Fremdes darf durchaus als Fremdes inszeniert und muss nicht wegerklärt werden – wie man aktuell in dem thematisch und geografisch ähnlich gelagerten Stück „Arabische Apokalypse“ von Etel Adnan hören konnte (vgl. FK 3/14).

Walter Adlers Inszenierung von Lothar Trolles „Judith“ mutet allerdings an wie der Versuch, auch mal großes Kino machen zu wollen, aber kein Genre-Kino wie Petra Feldhoff in ihrer Inszenierung von Daniel Suarez’ Science-Fiction-Thrillern „Daemon“ und „Darknet“ (vgl. FK 42/13), sondern großes, verrätseltes Arthouse-Kino. Herausgekommen ist dabei eine Stilübung, die jedem Nachwuchsregisseur empfohlen werden kann.

Jochen Meißner – Funkkorrespondenz 04/2014

P.S.: Unter dem Titel „Hörfunk First“ gratuliert Thomas Irmer im Freitag Lothar Trolle zum 70. Geburtstag und in der Berliner Zeitung verspürt Dirk Pilz „Glück, Glück, Glück“ und setzt mit dem schönen Satz ein: „Lothar Trolle gelesen, durcheinander gekommen.“

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