Speed-Dating Ost/West
She She Pop: Schubladen. Ein Generationsporträt
Deutschlandradio Kultur, Mo 14.10.2013, 0.05 bis 1.00 Uhr
Das Hörspiel, sagte Lisa Lucassen von der Autorengruppe She She Pop anlässlich der Verleihung des Hörspielpreises der Kriegsblinden 2012 für ihr Stück „Testament“ (vgl. FK 37/11), sei kein Theater ohne Bild, vielmehr sei das das Theater eine Art Hörspiel mit suboptimalem Timing, zu vielen Atmern, zu wenig Geräuschen und ohne Soundeffekte. Das neue Hörspiel von She She Pop, das ebenfalls auf einer Bühneninszenierung basierende Generationsporträt „Schubladen“, ist allerdings so eine Art Theater, aber ohne Bühnenbild, Choreografie und Video und vor allem ohne den direkten Kontakt zum Publikum.
Im Vergleich zu der hochdramatischen Intensität der „verspäteten Vorbereitung zum Generationswechsel nach Lear“, wie „Testament“ präzise untertitelt war, ist „Schubladen“ ein eher laues deutsch-deutsches Generationsporträt, bei dem Annett Gröschner (Ost) auf Johanna Freiburg (West) trifft, Alexandra Lachmann (Ost) Nina Tecklenburg (West) begegnet und Peggy Mädler (Ost) sich mit Ilia Papatheodorou (West) streitet. Geboren sind alle zwischen Mitte der 1960er und Anfang der 1970er Jahre – haben also die Implosion der DDR und die Wiedervereinigung sehr bewusst erlebt.
In einer Art Speed-Dating-Anordnung reden die Frauen miteinander, und die wichtigste Frage wird gleich am Anfang gestellt: Ist es zulässig, von sich als Atheist, Arbeiter oder Ingenieur zu sprechen, auch wenn man weiblich ist? Der generationenlange Kampf um weibliche Endungen, um das große Binnen-I, oder auch die neueste Mode, mit Unterstrich (Sprecher_innen) eine genderkonforme Rechtschreibung zu realisieren, die auch intersexuellen und Transgender-Menschen ihre Stelle in der Orthografie freihält, haben offenbar tiefe Spuren im Seelenhaushalt westdeutscher Feminist_innen hinterlassen. Peggy aus dem Osten kommentiert das süffisant: „Ich stelle fest, dass Ilia bei einem Wort wie Ingenieur ausschließlich an Männer denkt.“ Peggys Auffassung von Emanzipation geht denn auch erheblich weiter als die Befreiung der Frauen vom Patriarchat, die sich im Suffix „-in“ manifestiert.
Die Lebensgeschichten, die sich die sechs Frauen erzählen, beginnen bei ihren Müttern, von denen eine beispielsweise Schneiderin ist und die andere eine Art Couponschneiderin – womit mit Himmelsrichtung klar wäre und außerdem geklärt ist, warum Tochter Ilia „nie einen Bezug zwischen Beruf und Geldverdienen herstellen konnte“, was sie beklagt. „Darum werden die Westfrauen auch alle Künstler, pardon Künstlerinnen“, amüsieren sich die Ostfrauen. Die Notwendigkeit, sich zu präsentieren, beziehungsweise die, sich zu tarnen, ist wohl die größte Differenz zwischen den beiden Gesellschaftssystemen. Im Osten wurde schon in der ersten Schulklasse gelehrt, wie man sich vor dem Feind zu verstecken hatte („Vermeide Horizontlinien, sie verraten dich!“) – was metaphorisch sehr genau verstanden wurde und dazu führte, gegenüber der Staatsmacht möglichst wenig Profil zu zeigen.
Die Dogmatismen und Lebenslügen mit denen beiden Gruppen der Fortysomethings zu operieren gelernt haben, treffen des Öfteren in kabarettistischer Zuspitzung aufeinander und gipfeln in einer Orgie gegenseitiger Vorwürfe, die sich als Fragen tarnen, zum Beispiel: „Hast du eine Ahnung, wie ich mich fühle, weil ich wegen eurer Schwäche von einer ostdeutschen Pfarrerdynastie regiert werde?“
Nach der Enttäuschung des ersten Hörens stellt man fest, dass Texte und Dialoge im Prinzip stimmen, aber so realisiert im Radio nicht den Resonanzraum finden, den sie auf der Bühne haben. Kein Live-Publikum lacht über die Pointen und erzeugt so ein wechselseitiges kollektives Einverständnis – auch mit gegensätzlichen Positionen. Die knapp 55-minütige Hörspielfassung von „Schubladen“ bleibt weit unter ihren akustischen und inszenatorischen Möglichkeiten und ist auf der Theaterbühne besser aufgehoben, schon weil man im anschließenden Kneipengespräch das Stück mit eigenen Vorlieben und Idiosynkrasien vervollständigen kann.
Jochen Meißner – Funkkorrespondenz 42/2013
P.S.: Ein genaueres und authentischeres Bild des Ost/West-Verhältnisses kurz nach der Wende hatte man in zwei Kurzfeatures von Henry Bernhard am 28. August im Deutschlandradio Kultur hören können: In „Promised Land“ ging es um Westmusiker in der DDR und in „Rio Reiser in Ost-Berlin“ um dessen Auftritt in der Werner-Seelenbinder-Halle 1988, in dem man heute noch die Gänsehaut spüren konnte, den eine Strophe des Ton-Steine-Scherben-Songs „Der Traum ist aus“ auslöste.
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