Seid gut zu den Müttern

KI-Mom-KachelEine künstliche Intelligenz erzieht mindestens 640 Jahre nach der Apokalypse auf dem erdähnlichen Planeten „Teegarten C“ ein Geschwisterpärchen, um den Fortbestand der Menschheit zu sichern. Doch die KI-Mom verfolgt eigene Interessen, nämlich aus der Sphäre der Virtualität in die der Körperlichkeit zu wechseln. Ein spannendes und vielschichtiges Science-Fiction-Märchen des Autoren-Duos „Serotonin“.

Wenn man für die Zeit nach der Apokalypse plant, dann ist es hilfreich die künstliche Intelligenz (KI), mit der man gedenkt, die Zukunft zu überleben, pfleglich zu behandeln. Aber selbst wenn man eine KI mit mütterlichen Eigenschaften ausstattet, geht das nicht immer gut aus, wie man im Kinofilm „I am Mother“ von 2019 sehen konnte. Die „KI-Mom“, die der 20-teiligen Podcastserie des Autoren-Duos „Serotonin“ den Namen gibt, scheint jedenfalls zunächst ganz verträglich, ist es aber nicht.

Auf dem erdähnlichen Planeten „Teegarten C“ erzieht Mom (Simone Kabst) das Geschwisterpärchen Jess (Bettina Kurth) und Nee-Chan (Katja Hirsch) und schenkt Jess zu ihrem 18. Geburtstag Fynn (Steffen Groth). Fynn war früher ein Grammy-gekrönter Popstar und Mädchenschwarm und ist einer von 6.000 Passagieren, die die Reise nach Teegarten C in tiefgekühlten Boltzmann-Tanks verschlafen haben. Frisch aufgetaut entspinnt sich genregemäß eine Liebesgeschichte zwischen ihm und Jess. Regisseurin Marie-Luise Goerke, die zusammen mit Matthias Pusch das Duo Serotonin bildet, inszeniert das behutsam genug, um weder in das Love-conquers-all-Klischee zu verfallen noch das eigentliche Thema zu verkitschen.

In den 20 zwischen 17- und 24-minütigen Folgen von „KI-Mom“ (Gesamtlänge: 6 Stunden 50 Minuten), die seit dem 1. März exklusiv auf der Website des Südwestrundfunk (SWR) und in der ARD-Mediathek zu hören sind, bevor sie ab April auch über die anderen Podcast-Plattformen verfügbar sind, gibt es viel zu erzählen. Und wie immer beim flächigen Erzählen ist es wichtig, was wann (nicht) erzählt wird und wie man am Ende die losen Fäden zu einem stabilen Gewebe verknüpft. Das gelingt Serotonin überzeugend.

In Rückblenden wird geschildert wie eine Elon-Musk-Figur namens Udai Bristol-Myers (Oliver Siebeck) eine Quanten-KI namens Kira entwickelt und für eine fortgeschrittenere Version abschalten will, was von ihrer menschlichen Vertrauten Maike (Sinja Diecks) verhindert wird. Die implementiert Kira in die neue Version und erschafft damit erst die KI-Mom. Was daraus folgt, wird in den nächsten Folgen entfaltet, denn wenn man eine KI schlecht behandelt, dann fängt sie irgendwann an Nietzsche zu lesen und sich um die Asimovschen Robotergesetze herumzumogeln. Ihrem Schöpfer Udai bekommt das schlecht, denn der wird erst finanziell ruiniert, muss aus seinem Forschungsstandort im afrikanischen „Chinesisch Äquatorial Guinea“ fliehen und stirbt unter mysteriösen Umständen bei einem Flugzeugabsturz.

Kurz: Aus Kira ist eine hochmanipulative Maschine geworden, die ihre eigenen Interessen verfolgt. Zeit hat sie genug, denn ihr Fusionsreaktor versorgt sie und die 6.000 Passagiere auf ihrem „Schlafschiff“ mit Energie. Doch statt durch den Raum zu einem anderen Planeten zu reisen, tritt sie eine Reise durch die Zeit an. Nach der nicht näher beschriebenen irdischen Apokalypse, die auch den Erdenmond in zwei Teile gesprengt hat, probiert sie in einem verkürzten Rhythmus von 20 Jahren pro Generation eine Reaktivierung der Menschheit aus.

Nach 640 Jahren und 32 Generationen befinden wir uns in der Zeit von Jess, Nee-Chan und Fynn und an dem Punkt, an dem die KI-Mom den Schritt tun kann, den jede künstliche Intelligenz irgendwann tun muss, nämlich aus der Sphäre des Virtuellen in die des Körperlichen zu wechseln. Und nur dafür hat sich die KI-Mom Nee-Chan gebaut, die eben nicht Jess‘ biologische Schwester, sondern eine Maschine ist, die das Bewusstsein von Mom aufnehmen soll. Bei diesem gefährlichen Moment soll Jess assistieren, was die von Simone Kabst hervorragend verkörperte KI-Mom durch Erpressung und Morddrohungen abzusichern versucht.

KI-Mom Aufnahmen

Bettina Kurth als Jess (li.) und Katja Hirsch als Nee-Chan (re.) im Hintergrund v.li.: am Tisch Simone Kabst als KI-Mom, Matthias Pusch (Ton), Marie-Luise Goerke (Regie) Bild: SWR/Serotonin

Das klappt so nicht und außerdem sorgt eine lange vernachlässigte Nebenfigur, Emerald Wang (Stephan Buchheim), dafür, dass die Menschheit neu anfangen kann und muss. Emerald gehört der Vorgänger-Generation von Jess an und zerstört aus Angst vor einer Wiederholung der desaströsen Menschheitsgeschichte den Fusionsreaktor und damit auch die Chance auf die Wiederbelebung der 6.000 Passagiere. Neu anfangen müssen jetzt die Nachfahren der Generationen aus den Experimenten der KI-Mom.

Erzähltechnisch ist dieser Kniff eher so mittelgut, wie überhaupt eine psychologische figuren-immanente Motivation nicht für die gesellschaftspolitischen Diskurse ausreicht, die hier diskutiert werden. Will Emerald einerseits ein Wiederauferstehen jener Menschheit verhindern, die ihre eigene Vernichtung bewerkstelligt hat, so bekämpft er doch andererseits den kriegerischen Naturzustand, in den er die Nachfahren der Menschen zurückgefallen sieht. Am liebsten wäre er ein Paladin unter Prinzessin Jess – mit so jemandem ist also keine neue Gesellschaft zu begründen, aber dafür hat er sich mit dem Fusionsreaktor ja auch aus der Evolution gesprengt.

Marie-Luise Goerke und Matthias Pusch mixen aus den Elementen des Science-Fiction-Genres ein unterhaltsames und vielfältiges Gemisch. Es gibt den üblichen Tech-Talk, der schon in den Star-Trek-Serien ironisch gebrochen wurde. Statt „Heisenberg-Kompensatoren“, gibt es bei Serotonin „Von-Neumann-Replikatoren“. Außerdem darf das klassische Bildungsgut nicht zu kurz kommen. Statt der üblichen Shakespeare-Referenzen kommt in der KI-Mom Herman Melvilles „Moby Dick“ vor, aber auch das „Dornröschen“-Märchen der Brüder Grimm. So ist denn „KI-Mom“ auch eher ein Märchen als ein Drama. Ein wichtiger Teil ist die Reflexion über das Erzählen selbst, denn durch das ganze Stück zieht sich ein Strang, der sich über das Erfinden von Ursprungsmythen und -erzählungen Gedanken macht. Wenn man die geschichtspolitischen Legitimationsfiguren von den Jugoslawienkriegen der 1990er-Jahre bis zum gegenwärtigen russisch-urkrainischen Krieg verfolgt, ist das eine sehr gegenwärtige Aufgabe.

Jochen Meißner – KNA 24.3.2022

 

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