Robert Schoens empfindsame Reise
Robert Schoen: Entgrenzgänger II – Reise nach Tscherkessk
HR 2 Kultur, Sonntag, 13.11.22, 22.00 bis 23.20 Uhr
Ein Würfelwurf führte den Hörspiel-Autor Robert Schoen als Gewinner eines „Grenzgänger“-Stipendiums der Robert-Bosch-Stiftung 2020 ins russische Woronesch. Weil aber die Regularien des Stipendiengebers nicht ganz eingehalten wurden, musste es ein Jahr später noch einmal nach Osteuropa gehen. Und wieder haben die Würfel über das Reiseziel entschieden.
Von Tscherkessk, der 1804 gegründeten und 130.000 Einwohner zählenden Hauptstadt der autonomen Republik Karatschai-Tscherkessien weiß man in etwa so viel wie von Woronesch, Hauptstadt des gleichnamigen russischen Oblast (Gebiet) – jedenfalls solange, bis Hörspiel-Autor Robert Schoen da gewesen ist. Als Stipendiat des „Grenzgänger“-Programms der Robert-Bosch-Stiftung schrieb er 2020 die Rundfunkgroteske „Entgrenzgänger“, in der Schoen „an den Rändern des Hörspiels herumstrolchte“, wie er es selbst in dem Stück sagt.
Sein aktuelles Reiseziel Tscherkessk im Nordkaukaus („Entgrenzgänger II – Reise nach Tscherkessk“) wurde durch insgesamt 638 Würfelwürfe ermittelt. Der Zeitpunkt der Reise stand fest: April 2022, während in Russland noch die Corona-Pandemie herrschte und der Angriffskrieg gegen die Ukraine eine Einreise weder per Flugzeug noch auf dem Landweg möglich machte. Selbst das russische Konsulat scheint überfragt, wie man einreisen sollte, und Schoens Versicherung wusste nicht, wie man gegebenenfalls seine Leiche nach Deutschland überführen könnte. Kurz, der Autor hat sich vor Antritt der Reise so seine Gedanken gemacht und ein bisschen herumtelefoniert – woran er die Hörerschaft gerne teilhaben lässt: „Ich hoffe, ich bleibe Ihnen als Versicherungsnehmer auch die nächsten Jahre erhalten“, setzt er eine leicht absurde Tonalität, schließlich würde er ja nicht freiwillig reisen. Das Schicksal hat ihn geschickt: „Die Würfel sind gefallen…“
Außerdem zitiert Robert Schoen einen Vorläufer. Im Radioessay „Herr Polewoi und sein Gast“ erzählte der Schriftsteller Wolfgang Koeppen von seiner „empfindsamen Reise“ durch die Sowjetunion (SDR 1958): „Es gibt Leute, die mich schelten werden. Aber hat Dante nicht die Einladung in die Hölle angenommen? Und die Hölle auf Erden? Ist sie ein geografisch zu erfassender Ort, ein begrenztes Territorium? Gibt es irgendwo ein Schild: Hier beginnt die Hölle, hier endet das Paradies? Und wenn es dieses Schild geben sollte, – wer hat es aufgestellt? Darf man ihm trauen? Ich halte nichts von Schildern. Ich reiste in die Sowjetunion.“
Auch Robert Schoen hält nichts von Schildern, auch wenn er von einer Russin vor den Tscherkessen gewarnt wird: „Da wird erst geschossen, dann gefragt. Keiner fährt in das muslimische Feindesland, würfel noch mal.“ Geht nicht, die Spielregeln müssen ernst genommen werden. Die Einreise erfolgt schließlich über Armenien.
Doch eine dantesche Hölle findet er nicht vor, und geschossen wird auch nicht. Stattdessen empfängt ihn ein tscherkessischer Literaturprofessor, der über Sprichwörter promoviert hat („Der Krieg frisst Gold und scheißt Kieselsteine“). Tscherkessien ist ein Vielvölkerstaat mit verschiedenen Turk- und kaukasischen Sprachen. Amtssprache ist Russisch, daneben gibt es vier offizielle Staatssprachen: Abasinisch, Karatschaiisch, Nogaisch und Tscherkessisch. Unter Stalin sind die Tscherkessen deportiert worden, unter Chruschtschow konnten sie wieder zurückkehren.
Über den aktuellen Krieg wird jedoch nicht gesprochen, jedenfalls nicht mit ihm. Stattdessen zitiert Schoen eine tscherkessische Lyrikerin: „Ich will vergessen den Krieg, doch da ist er wieder.“ Er spielt seinen Gastgebern Reinhard Meys Chanson „Nein, meine Söhne geb‘ ich nicht“ vor. Offensichtlich wollen auch die Tscherkessen ihre Söhne nicht im putinschen Angriffskrieg gegen die Ukraine verheizen lassen.
Die skurrilste Begegnung hat Robert Schoen jedoch mit einem Musiker, der – ohne ein Wort Englisch zu sprechen – „Bohemian Rhapsody“ von Queen singt, was zu einer Neubegegnung mit dem Text des Nummer-1-Hits führt. Im Fremden das Eigene entdecken, das ist ein Effekt von Schoens empfindsamer Reise. „Die Würfel haben mich nach Russland geschickt, darum bin ich hingefahren, das ist alles“, zieht Schoen am Ende des Hörspiels Bilanz, das er wie alle seine Stücke auch selbst inszeniert hat. Das klingt sehr zurückgenommen, ähnlich wie „die Musik, die sich tapfer einer kleinen Box in der Zwergenlokomotive entwindet“, die er in einem Vergnügungspark in Tscherkessk belauscht hat. Vielleicht hätte der Autor dem Würfelglück etwas nachhelfen und noch einmal nach Woronesch fahren sollen.
Jochen Meißner – KNA Mediendienst, 16.11.2022
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