Präzise Floskel

Tuğsal Moğul: Auch Deutsche unter den Opfern

WDR 3, Di 26.09.2017, 19.04 bis 19.57 Uhr / WDR 1Live 23.00 bis 23:53 Uhr

Wirklich interessant wird ein Verkehrsunfall, eine Naturkatastrophe oder ein Terroranschlag im Ausland für ein hierzulande erscheinendes Medium erst, wenn man das Ereignis auf das Lokale, sprich: das Deutsche herunterbrechen kann. Dafür haben die Textbausteindesigner die Floskel „Auch Deutsche unter den Opfern“ gelaubsägt. Eine oberflächliche Google-Abfrage bestätigt, dass zuletzt die ARD-„Tagesthemen“ mit dieser Floskel am 18. August 2017 einen Beitrag über den Terroranschlag vom Tag zuvor in Barcelona betitelt haben. Zu literarischen Ehren ist der Satz im Jahr 2010 gekommen, als Benjamin von Stuckrad-Barre seine gesammelten Reportagen, Porträts und Erzählungen unter diesem Titel als Buch veröffentlichte. Was da noch Ironie war, wird in dem als „Rechercheprojekt“ untertitelten Theatertext von Tuğsal Moğul endgültig auf seinen sarkastischen Kern konzentriert.

Als Titel im künstlerischen Kontext funktioniert die Phrase „Auch Deutsche unter den Opfern“ um einiges präziser, als man vermuten könnte. Das „auch“ deutet darauf hin, dass die Deutschen, die hier zu Opfern wurden, nicht die eigentlichen Ziele waren oder zumindest nicht in ihrer Eigenschaft als Deutsche zu Opfern geworden sind. Anlässlich der Uraufführung des Textes am Theater Münster bezeichnete die Zeitschrift „Theater heute“ mit der eventuell schiefsten Superlativkonstruktion aller Zeiten Moğuls Stück als „die möglicherweise komprimierteste Recherchearbeit über den NSU-Fall“. Für den WDR wurde das Theaterstück jetzt auch als Hörspiel realisiert. Autor Tuğsal Moğul, geboren 1969 im münsterländischen Neubeckum, ist diplomierter Schauspieler, Theatermacher, Anästhesist und Notarzt.

Carb Carl Beike, Ralf Haarmann, Bild Fahri Sarimese.

Carb Carl Beike, Ralf Haarmann, Bild Fahri Sarimese.

In der Hörspielinszenierung des Komponisten und Musikers Ralf Haarmann rast man innerhalb von gerade einmal rund 53 Minuten durch die Geschichte und die juristische Aufarbeitung der rechtsextremistisch motivierten Anschläge, die dem NSU-Trio Uwe Böhnhardt, Uwe Mundlos (beide tot) und Beate Zschäpe (die seit längerem vor Gericht steht) zugeschrieben werden. Den Mordanschlägen und Sprengstoffattentaten sind neun meist Kleinunternehmer mit Migrationshintergrund und eine deutsche Polizistin zum Opfer gefallen. Einer der Morde wurde in Anwesenheit eines Mitarbeiters des hessischen Verfassungsschutzes verübt. Wie überhaupt der Verfassungsschutz eine tragende Rolle in der Geschichte des sogenannten Nationalsozialistischen Untergrunds (NSU) spielt, haben die Verfassungsschützer doch die Vernetzung der rechtsextremen Szene nicht nur nicht verhindert, sondern sie sogar personell und finanziell gefördert.

Das ästhetische Verfahren, mit dem sich Tuğsal Moğul dem Material nähert – und mit dem es Ralf Haarmann inszeniert hat –, ist das der Kompression und der Überwältigung: Eine hohe Sprechgeschwindigkeit, die manchmal ins Hiphophaft-Rhythmische kippt, wird von einer Musikspur unterstützt, die die Sprache mal antreibt und mal verzögert. Ein Erklärstück im Jargon der „Sendung mit der Maus“ darf als popkulturelle Referenz auch nicht fehlen, ebenso wenig wie die listenhafte Aufzählung der Opfer rechtsextremer Gewalt – und die Ausreden der Ermittlungs- und Strafverfolgungsbehörden, warum es sich in all diesen Fällen angeblich nicht um politisch motivierte Taten gehandelt habe.

Ginge es um einen Thrillerplot, so würde man dem Autor spätestens dann hilflose Übertreibungen vorwerfen, wenn er deutsche Ermittlungsbehörden einen Wahrsager aus dem Iran einfliegen lässt, weil man keinerlei Fortschritte bei den Ermittlungen zu den sogenannten „Döner-Morde“ gemacht hat. Und wenn er später auch noch eine Münchner Wahrsagerin hinzuzieht, weil die Methode ja schon beim erstem Mal so gut geklappt hat. Doch wir haben es hier mit dokumentarischem Material zu tun und die Realität ist auch in diesem Fall grotesker, als es sich ein Dramatiker ausdenken könnte, der an der Glaubwürdigkeit seiner Geschichte interessiert ist.

So stellt sich die Situation als viel dramatischer dar, als sie es nur auf einer Bühne oder im Hörspiel wäre, weil nämlich offensichtlich der relevante Teil der Ermittlungsbehörden nicht „die Gewähr bietet, jederzeit für die freiheitlich-demokratische Grundordnung einzutreten“, wie es im Stück heißt. Es ist 2021, als in Tuğsal Moğuls Hörspiel der Gerichtsprozess gegen Beate Zschäpe zu Ende geht: „Der Kreis ihrer Unterstützer und Gehilfen war auf wenige Vertraute begrenzt“, lautet ein Satz aus dem fiktiven Urteil. Dass trotz des aufwändigsten Strafprozesses der bundesdeutschen Geschichte die Aufklärung zu dem Geschehen im Journalismus und bei den Künsten besser aufgehoben ist als bei den Justiz- und Sicherheitsbehörden, ist die bedenkliche Botschaft des Stücks.

Jochen Meißner – Medienkorrespondenz 21/2017

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