Podcast ist keine Form!

Über Zugriffszahlen auf anderen Plattformen kann sich das Radiofeature nicht beklagen. Nur in der ARD-Audiothek waren etwas anspruchsvollere Stücke schwer zu finden. Dass soll sich mit dem Kanal „Arthouse Doku“ ändern.

„Podcast ist ein Ausspielweg und keine Form“, sagt Michael Lissek, Feature-Redakteur beim Südwestrundfunk (SWR), der die Federführung für den neuen Kanal „Arthouse Doku“ in der ARD-Audiothek hat. Zusammen mit den Redakteuren Ingo Kottkamp und Kathrin Moll von Deutschlandfunk Kultur, Joachim Dicks vom Norddeutschen Rundfunk (NDR) und der kürzlich verstorbenen Leslie Rosin vom Westdeutschen Rundfunk (WDR) startet am 11. April der neue Feed „Arthouse Doku“ in der ARD-Audiothek. Künftig soll drei Mal im Jahr mit jeweils sieben Stücken das Geschehen im Radiofeature abgebildet werden.

Dass man auch ohne einen oder gar zwei „Hosts“ ein Thema erschöpfend behandeln kann und dass nicht jeder kleine Sachverhalt sofort und am besten gleich mehrfach erklärt werden muss, ist allen „Arthouse-Doku“-Produktionen gemeinsam. Selbst ein Erzähler ist oft verzichtbar, wenn man weiß, wie man Originaltöne montiert und akustische Atmosphären, Geräusche und Musik als sinntragende Elemente einsetzt. Denn dass man es mit einer mündigen Hörerschaft zu tun hat, die es nicht goutiert, wenn ihr alles bereits vorgekaut serviert wird, ist das Credo der ersten sieben Stücke mit denen „Arthouse Doku“ startet.

Da ist beispielsweise das mit dem CIVIS-Preis ausgezeichnete Stück „Welcome Home Dr. Marco“ von Ute Lieschke (SWR/DLF 2022), in dem man die Stimme eines sächselnden Krankenhausarztes hört, bei dem sich schnell herausstellt, dass er über ein Merkmal verfügt, dass sich im Radio nicht unmittelbar mitteilt: eine schwarze Hautfarbe. Trotz des abschreckenden Untertitels „Identitätssuche zwischen Karl-Marx-Stadt und Kenia“ wird mit großer Wärme und einem veritablen Happy-End die Lebensgeschichte eines Menschen erzählt, der seine Existenz einem One-Night-Stand verdankt.

Das Prinzip O-Ton

Sandra Hoffmanns Feature über das Altern ihres 80-jährigen Protagonisten mit dem Titel „Mein Herz kenn ich inzwischen von außen und von innen genau“ (SWR 2024) funktioniert formal nach demselben Prinzip: O-Ton, O-Ton, O-Ton. Ähnlich geht es im Porträt der Schauspielerin Meryem Öz, „Fifty Shades of Meryem“, von Leon Daniel und Yannick Kaftan zu, nur das hier die Autoren weniger in ihrer funktionalen Rolle auftreten, sondern als Freunde und Mitakteure ihrer Hauptfigur.

Können in diesen Stücken die Figuren noch für sich selbst sprechen, spricht in Christian Collets Stück „Wolfgang – Ein Leben auf 20.000 Kassetten“ der Bankangestellte Wolfgang Seelbinder von sich selbst. Genauer: er ist zum Dokumentaristen seines eigenen Lebens geworden, das er auf Audiokassetten mitgeschnitten hat, die nach seinem Tod in die Hände von Christian Collet geraten sind. Der arbeitet als Archivar beim Rundfunk Berlin Brandenburg und beschäftigt sich mit seiner „Kassationskunst“ auch mit den materiellen Grundlagen der Tonaufzeichnung. Kassation meint „die Vernichtung von Unterlagen, die durch das Archiv bei der Bewertung als nicht archivwürdig eingeschätzt werden“. Wolfgang hat er mit seinem Feature vor diesem Schicksal bewahrt.

Wie man sich aus den mentalen Fängen einer sektenartigen evangelikalen Freikirche befreit, kann man in Monika Kursawes Stück „Herz über Kreuz. Ein Coming-Out in der Freikirche“ (SWR 2023) hören. Doch über die Erzählung einer Emanzipationsgeschichte hinaus kommt auch die fundamentalistische Gründerin eines evangelikalen Missionswerks zu Wort, die den Menschen entweder als Gefäß Gottes oder als das von Dämonen betrachtet. Wenn man hier hört, wie Gottesliebe und Menschenverachtung in eins fallen können, läuft es einem kalt den Rücken herunter.

Innere Verlangsamung

Doch im Feature müssen Originaltöne nicht nur als Glaubwürdigkeitsnachweis für sich selbst stehen. Sie können auch in einen poetischen Rahmen eingebettet werden, wie im Stück „Leiser Regen auf der Autobahn“ (DLF Kultur 2016) des französischen Toningenieurs und Regisseurs Lionel Quantin. Vom Sex auf einem Autobahnparkplatz bis hin zu einer wutbürgerhaften Abrechnung hört man den unverbundenen, episodenhaften Szenen immer das fein austarierte Sounddesign französischer Prägung an. Es ist das Stück mit den längsten soundgesättigten Pausen, die dem Ganzen einen ruhigen Rhythmus verleihen, der das ambivalente Verhältnis von äußerer Geschwindigkeit und innerer Verlangsamung inszeniert. So etwas unterscheidet einen Featureautor von einem Radiojournalisten.

Ganz ohne O-Töne geht es in dokumentarischen Radioformen zwar nicht, was aber nicht heißt, dass man sich nicht an den Pol radikaler Künstlichkeit vorwagen kann. Das frei produzierte, diskursive Stück „Der jüngste Prozess“ von Elias Gottstein führt eine imaginäre Gerichtsverhandlung zwischen Natur und Kultur. In dem von Kathrin Angerer über Lilith Stangenberg bis Lars Rudolph prominent besetzten Stoff treten als Experten die Gendertheoretikerin Christina von Braun, die Philosophen Fabian Bernhardt und Markus Gabriel und die Wirtschaftsjournalistin Ulrike Herrmann auf und werden dabei von einem Chor kommentiert.

Der NDR hat das Stück 2022 angekauft und gesendet. Wie überhaupt alle Stücke, die als „Arthouse Dokus“ für ein Jahr ins Netz gestellt werden, auch im linearen Radio laufen müssen, damit die Autoren dafür honoriert werden können. Reine Online-Vergütungsmodelle gibt es für Features in der ARD bisher nicht.

Gegen die „Podcasterisierung“

SWR-Redakteur Michael Lissek will den „Arthouse-Doku“-Kanal als „digitales Sammelbecken für sperrige, künstlerisch gestaltete Radiofeatures“ verstehen, die sich der „Podcasterisierung“ dokumentarischer Formate entgegenstellt. Dennoch überzeugen die meisten Stücke eher über die inhaltliche als die formal-ästhetische Varianz.

Was im Feature ästhetisch alles möglich ist, kann man auf der Website wirklichkeitimradio.de hören, die von dem Deutschlandfunk-Kultur-Redakteur Ingo Kottkamp initiiert wurde. Dort sind fast fünfzig Features zu hören, die vom jungen Henryk M. Broder („Verkaufskanonen“, WDR 1976) bis zu Ror Wolf („Bananen-Heinz“, HR 1983) reichen. Stücke von Christian Geissler bis Peter von Zahn, von Frieder Butzmann bis Claudia Wolff, von Peter Leonhard Braun bis Harun Farocki, von Kay Mortley bis Margot Overath, von Malte Jaspersen bis Ferdinand Kriwet sind dort versammelt und bilden die ganze Breite eines Genres ab. Gemeinsam ist ihnen, dass sie wissen, das jeder Inhalt seine eigene Form erfordert. So entstehen haltbarere Werke, als jene Audioprodukte, die nach den gerade modischen Formatvorgaben produziert werden.

Jochen Meißner – KNA Mediendienst, 11.03.2024

 

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